OVG Berlin-Brandenburg: Alt, krank und zum Fahren ungeeignet


Der 1929 geborene Kraftfahrer leidet an einer chronisch voranschreitenden Nervenkrankheit, die bei ihm zu einer teilweisen Lähmung beider Beine im Fußbereich geführt hat. Die Führerscheinstelle hatte Bedenken gegen seine Fahreignung und ließ den Kraftfahrer zweimal zu einer Fahrprobe antreten, bei der er körperlich bedingt erhebliche Fahrfehler beging und andere Verkehrsteilnehmer gefährdete, so dass ein Fahrlehrer eingreifen musste. Die psychologische Begutachtung ergab schwerwiegende Aufmerksamkeitsdefizite. Daraufhin wurde dem Kraftfahrer die Fahrerlaubnis mit Sofortvollzug entzogen. Während das VG Potsdam auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Entziehung wieder herstellte, da der Kraftfahrer unter bestimmten Auflagen eingeschränkt fahrgeeignet sei, fand das OVG Berlin-Brandenburg, dass die Ausfallerscheinungen in diesem Einzelfall nicht mehr kompensierbar seien und die Entziehung nach summarischer Prüfung rechtmäßig war.

Gleichzeitig stellte das OVG aber klar, dass allein ein hohes Alter eines Kraftfahrers für sich genommen nicht die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen rechtfertige. Ebenso auch nicht jeder altersbedingte Abbau der geistigen und körperlichen Kräfte Anlass für eine Entziehung oder Beschränkung der Fahrerlaubnis biete; hinzutreten müsse vielmehr, dass es im Einzelfall zu nicht mehr ausreichend kompensierbaren, für die Kraftfahreignung relevanten Ausfallerscheinungen oder Leistungsdefiziten gekommen ist.

Aus den Gründen:

(…) Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung ist mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen, dass der Antragsteller aufgrund seiner psychischen und physischen Leistungsdefizite nicht nur in dem vom Verwaltungsgericht angenommenen eingeschränkten, sondern voraussichtlich in vollem Umfang zum Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr nicht mehr als geeignet angesehen werden kann bzw. ungeeignet ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV). Der angefochtene Bescheid erscheint deswegen offensichtlich rechtmäßig, weshalb die im Eilverfahren vorzunehmende Interessenabwägung nicht zu Gunsten des Antragstellers ausfallen kann. Im Einzelnen:

Die in dem testpsychologischen Teilgutachten der DEKRA (…) festgestellten erheblichen Reaktionsdefizite des Antragstellers werden vom Verwaltungsgericht zu Recht nicht in Zweifel gezogen. In vier der durchgeführten sieben Testreihen lag sein durch die Bearbeitungsgeschwindigkeit nachgewiesenes Reaktionsvermögen deutlich außerhalb der Normwerte; (…). Eine Testreihe (Inter-Or) wurde wegen des zu geringen Anteils richtiger Antworten nicht bestanden. Dazu wird in dem Gutachten ausgeführt: „Bei der Testdurchführung dominierte eine erhebliche Verlangsamung. Die Bearbeitungsgenauigkeit erwies sich bis auf zwei Testverfahren als ausreichend, die Bearbeitungsgeschwindigkeit war jedoch völlig unzureichend. Angesichts dieser Leistungsergebnisse liegen die Folgen für das konkrete Fahrverhalten darin, dass persönliches Tempo und Redaktionskapazität des Untersuchten nicht ausreichen, um die nach ihrem eigenen Tempo ablaufenden Verkehrssituationen ständig ausreichend schnell und sicher zu bewältigen. Für das Verhalten in einer realen Verkehrssituation kann dies bedeuten, dass bei einer eigengesetzlich ablaufenden plötzlichen Änderung der Verkehrslage inadäquate Reaktionsschemata deshalb in Gang gesetzt werden, weil bei dem vorliegenden persönlichen Tempo des Untersuchten in der zur Verfügung stehenden Zeit eine konstruktive Kombination der erlernten Verhaltensweisen nicht realisiert werden kann“. Insgesamt kommt die Fachpsychologin für Verkehrspsychologie zu dem Schluss, dass der Antragsteller den Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs nicht genüge und wegen der eindeutig negativen Testergebnisse (sogar) auf eine Klärung von Kompensationsmöglichkeiten im Rahmen einer psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung verzichtet werden könne. (…)

Der Antragsteller hat die festgestellten Einschränkungen seiner psycho-physischen Leistungsfähigkeit in der Fahrverhaltensbeobachtung (…) auch nicht ausgleichen können. Dass dabei nach Angaben des Antragsgegners ein Fahrzeug ohne Parabolspiegel eingesetzt wurde, stellt eine Berücksichtigung der damit nicht in Verbindung zu bringenden weiteren erheblichen Fahrfehler, insbesondere die wiederholte Missachtung der Vorrangregelung (einmal Eingriff des Fahrlehrers) und das nicht rechtzeitige Anzeigen des Abbiegevorgangs bzw. Fahrstreifenwechsels, zu Lasten des Antragstellers nicht in Frage. (…)

Angesichts der eindeutigen Ergebnisse der beiden Fahrverhaltensbeobachtungen überzeugen die hiergegen erhobenen Einwendungen des Antragstellers nicht, er habe keine „Verkehrszuwiderhandlungen“ oder Fehlverhalten gezeigt, das Eingreifen des Fahrlehrers beruhe auf dessen Fehleinschätzung der Situation, und möglicherweise im Laufe einer langen Fahrpraxis eingeschlichene Fehlroutinen könnten durch Konzentration hierauf behoben werden. Die Schwere der im Gutachten (…) festgestellten Fahrfehler enthält ein hohes Gefährdungspotential für andere Verkehrsteilnehmer, (…).

(…) Der im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigte Gesichtspunkt seiner jahrzehntelangen unfallfreien Teilnahme am Straßenverkehr kann den Befund, dass er aktuell nicht mehr befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, nicht entkräften (vgl. entsprechend Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. April 2009 – 11 CS 09.450 – juris Rn. 17). Das hohe Alter eines Kraftfahrers rechtfertigt zwar für sich genommen nicht die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen. Ebenso bietet auch nicht jeder altersbedingte Abbau der geistigen und körperlichen Kräfte Anlass für eine Entziehung oder Beschränkung der Fahrerlaubnis; hinzutreten muss vielmehr, dass es im Einzelfall zu nicht mehr ausreichend kompensierbaren, für die Kraftfahreignung relevanten Ausfallerscheinungen oder Leistungsdefiziten gekommen ist. Dafür bestehen aufgrund der vorliegenden Untersuchungsergebnisse freilich hinreichende Anhaltspunkte. Dass der Antragsteller die Entziehung seiner Fahrerlaubnis als gravierende Verschlechterung seiner Lebensqualität empfindet, ist dem Senat dabei bewusst. Wird aber – wie offensichtlich im vorliegenden Fall – ein Fahrerlaubnisinhaber den komplexen Anforderungen des heutigen öffentlichen Straßenverkehrs nicht mehr gerecht, muss dies im Hinblick auf seine eigene Sicherheit und die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer zurückstehen. (…)

OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.05.2012, Az: 1 S 25.12

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