KG: keine Annahme von Fluchtgefahr nach „Schema F“


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Die Fluchtgefahr ist neben dem dringenden Tatverdacht und der Verhältnismäßigkeit eine der drei Voraussetzungen der Anordnung von Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Gern wird die Fluchtgefahr damit begründet, dass die zu erwartende Strafe einen erheblichen Anreiz bietet, sich dem Verfahren zu entziehen. Das Kammergericht hat aktuell auf die Beschwerde gegen einen gegen Auflagen ausgesetzten Haftbefehl einer solchen schematischen Beurteilung – hohe Straferwartung = Fluchtgefahr – eine klare Absage erteilt und auf die Umstände des Einzelfalles, hier u.a. Alter, Erkrankung, soziale Bindungen und  Einlassungsverhalten im bisherigen Verfahren, abgestellt.

Der Beschuldigte war Geschäftsführer einer GmbH, deren Geschäftszweck darin bestand, Abiturabschlussfeiern und -reisen zu organisieren und zu vermitteln.  Infolge einer Überweisung, die das nahezu gesamte Vermögen der GmbH aufgezehrt und bei dieser zu einem entsprechend hohen Schaden geführt habe, war die GmbH nicht mehr in der Lage, Feiern und Reisen auszurichten. Gegen den Beschuldigten bestand dringender Tatverdacht einer Untreue, es erging Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Flucht gestützt  wurde. Der Haftbefehl wurde gegen die Auflage, sich zweimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeidienststelle zu melden außer Vollzug gesetzt. Dieser Auflage kommt der Beschuldigte seither auch nach, erhob aber gegen den Haftbefehl Beschwerde,  da kein Haftgrund vorliege. Das Landgericht Berlin verwarf die Beschwerde als unbegründet. Hiergegen legte der Beschuldigte weitere Beschwerde ein, über die das Kammergericht zu entscheiden hatte. Dort hob man den Haftbefehl sowie den Haftverschonungsbeschluss des Amtsgerichts Tiergarten und dem Beschluss des Landgerichts Berlin (504 Qs 98/11) auf.

Aus den Gründen:

(…) Es kann dahinstehen, ob gegen den Beschuldigten, der sich wiederholt und umfassend zur Sache eingelassen hat, dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO) im Sinne des mit dem Haftbefehl dargestellten Tatvorwurfs vorliegt. Denn es liegt jedenfalls keine Fluchtgefahr (112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor.

Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 112 Rn. 32 m.w.N.) – dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren zur Verfügung halten (vgl. nur OLG Köln StV 2006, 313; Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl., § 112 Rn. 17; Graf in KK-StPO 6. Aufl., § 112 Rn. 16; Deckers in AK-StPO, § 112 Rn. 18, jeweils m.w.N.; enger Hilger a.a.O.: hohe Wahrscheinlichkeit).

Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind lediglich, aber auch nicht weniger als der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. Meyer-Goßner a.a.O., Rn. 24 mit zahlr. Nachw.).

Die Straferwartung beurteilt sich hierbei nicht ausschließlich nach der subjektiven Vorstellung des Beschuldigten; sondern Ausgangspunkt ist der Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Beschuldigten allerdings mit einzubeziehen ist (vgl. OLG Hamm StV 2001, 115; Meyer-Goßner a.a.O., Rn. 23; Wankel in KMR-StPO [50. EL, Stand Juni 2008], § 112 Rn. 8; zur Maßgeblichkeit der Prognose des Haftrichters siehe auch BVerfG, Beschluss vom 15. August 2007 – 2 BvR 1485/07 -, m.w.N. [juris, Abs. 22]). Für die Straferwartung kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an, sodass die Anrechnung der Untersuchungshaft gemäß § 51 StGB und eine voraussichtliche Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes nach § 57 StGB den Fluchtanreiz ebenso verringern kann (vgl. Krauß in Graf [Hrsg.], StPO [2010], § 112 Rn. 17; Meyer-Goßner a.a.O., Rn. 23 m.w.N.), wie die begründete Aussicht, eine (auch längere) Freiheitsstrafe im offenen Vollzug verbüßen zu können (vgl. Graf a.a.O., Rn. 20; OLG Köln StV 2006, 313 [für den Fall einer vierjährigen Freiheitsstrafe]). Andererseits ist ein mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmender Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung als Umstand in Rechnung zu stellen, der den Fluchtanreiz erhöht (vgl. KG StV 1996, 383; OLG Brandenburg StV 2002, 147; Meyer-Goßner a.a.O., Rn. 24; Hilger a.a.O., Rn. 40; Graf a.a.O.; Wankel a.a.O. m.w.N.).

Auf dieser Grundlage sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen. Je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger müssen die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind unter anderem die Persönlichkeit, die persönlichen Verhältnisse und das Vorleben des Beschuldigten, die Art und Schwere der ihm vorgeworfenen Tat, das Verhalten des Beschuldigten im bisherigen Ermittlungsverfahren wie auch in früheren Strafverfahren, drohende negative finanzielle (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 12. September 2007 – 4 Ws 305/07 – [juris, Abs. 15]) oder soziale Folgen der vorgeworfenen Tat, aber auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen und die Natur des verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs, soweit diese Rückschlüsse auf das Verhalten des Beschuldigten nahe legt (etwa bei Taten, bei denen im Regelfall Auslandskontakte vorliegen, oder in Fällen organisierter Kriminalität; vgl. Graf a.a.O., Rn. 23; Krauß a.a.O., Rn. 14; Lemke in HK-StPO 4. Aufl., § 112 Rn. 26; jeweils m.w.N.), zu berücksichtigen (zu weiteren Prognosekriterien vgl. nur Meyer-Goßner Rn. 20ff.; Wankel Rn. 7; Graf Rn. 22ff.; jeweils a.a.O.).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe ist nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird. Das Landgericht hat seiner Entscheidung in der (von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin geteilten) Annahme einer Straferwartung von „drei bis vier Jahren“ Freiheitsstrafe und unter Berücksichtigung einer Reststrafaussetzung gegebenenfalls schon zum Halbstrafenzeitpunkt eine tatsächliche Mindestverbüßungsdauer zwischen 1 ½ und zwei Jahren zugrunde gelegt. Bei einer solchen konkreten Straferwartung, die bei vorläufiger Würdigung jedenfalls nicht als unrealistisch niedrig anzusehen ist, liegt fraglos kein Fall vor, in dem wegen einer „besonders hohen Straferwartung“ nach verbreiteter Ansicht nur noch zu prüfen ist, ob Umstände vorhanden sind, die „die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr ausräumen können“ (vgl. dazu nur Graf a.a.O., Rn. 19; Meyer-Goßner a.a.O., Rn. 25, jeweils m.w.N.). Vielmehr ist eine umfassende Abwägung aller entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlich, die zu der Annahme führen müsste, dass der Beschuldigte dem – eher geringen – Fluchtanreiz, den ihm jene Straferwartung bietet, wahrscheinlich nachgeben und tatsächlich fliehen werde. Diese Annahme ist nicht gerechtfertigt. Auch das Landgericht, das Fluchtanreiz und Fluchtgefahr gleichgesetzt hat, hat keine hierfür tragfähigen Gesichtspunkte bezeichnet.

Der 65-jährige, bislang unbestrafte Beschwerdeführer hatte seinen Lebensmittelpunkt stets in Berlin und ist hier fest verwurzelt. Soziale Bindungen außerhalb Berlins sind demgegenüber nicht bekannt. Der Beschuldigte befindet sich in regelmäßiger, intensiver ärztlicher Behandlung, auf die er angewiesen ist. Auch seine Ehefrau ist krank und bedarf neben fortlaufender ärztlicher Betreuung auch seiner Unterstützung und Hilfe. Für die Annahme, der Beschwerdeführer werde diese Betreuung aufgeben, um sich dem Verfahren zu entziehen, spricht wenig. Der Beschuldigte hat sich bislang dem polizeilichen Ermittlungsverfahren gestellt und mit den Behörden kooperiert. Seit seiner Haftverschonung ist er mehrmals zu Vernehmungen erschienen, hat dabei umfangreiche Angaben gemacht und Unterlagen vorgelegt, die der Aufklärung des Sachverhalts dienlich sind. Dass er, wie die Generalstaatsanwaltschaft Berlin ausgeführt hat, mit zivilrechtlichen Ansprüchen „der Geschädigten“ zu rechnen habe, mag zutreffen. Geschädigte der verfahrensgegenständlichen Tat ist die „E“ GmbH, die ihren Geschäftsbetrieb eingestellt hat. Eine Beteiligung des Beschwerdeführers an den mutmaßlichen Straftaten zum Nachteil der betroffenen Schüler ist nicht Gegenstand des hier gegen ihn erhobenen Vorwurfs und nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen offenbar auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht im Sinne eines dringenden Verdachts wahrscheinlich, da es andernfalls nahe gelegen hätte, eine Erweiterung des Haftbefehls zu beantragen. Soweit der Beschwerdeführer nach dem Vorbringen seiner Verteidigerin gleichwohl seit dem 21. Juni 2011 vor dem Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg in einem nicht näher bekannten Verfahren verklagt worden ist, verteidigt er sich dagegen, und es ist nichts dafür ersichtlich, dass er sein Verhalten ändern und wegen der Geltendmachung des dort erhobenen Anspruchs seine Heimatstadt verlassen oder in ihr untertauchen werde. Mangels ihm zur Verfügung stehender Geldmittel sind seine Handlungsmöglichkeiten ohnedies eingeschränkt. Wie vor seiner Bestellung zum Geschäftsführer der GmbH bezieht der Beschwerdeführer staatliche Sozialleistungen und verdient daneben durch Buchhaltungsarbeiten im Rahmen eines in seiner Wohnung ausgeübten Gewerbes, das er jüngst angemeldet hat, wieder etwas hinzu. Auch diese förmliche Aufnahme einer Gewerbetätigkeit während der Haftverschonung spricht gegen die Annahme, der Beschwerdeführer werde fliehen. Seit der Haftverschonung hat er nicht nur – auch in Kenntnis der zwischenzeitlich erfolgten, vorübergehenden Aufhebung der Haftverschonung des Mitbeschuldigten Hinkel – an dem Verfahren weiter mitgewirkt; sondern er ist auch der ihm erteilten Auflage über einen Zeitraum von mehr als vier Monaten beanstandungsfrei nachgekommen. (…)

KG, Beschluss vom 03.11.2011, Az:  4 Ws 96/11, 4 Ws 96/11 – 1 AR 58/11 (Entscheidungsdatenbank Berlin-Brandenburg)

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