Die Betroffene war am 15.06.2008 im Abstand von 1 Minute zweimal geblitzt worden. Um 5.54 Uhr fuhr sie auf der BAB 40 in Essen, Fahrtrichtung Bochum, und überschritt die erlaubten 80 km/h um 63 km/h, zwei Kilometer weiter und eine Minute später um 5.55 Uhr erwischte man sie in Höhe der Anschlussstelle Gelsenkirchen wo sie die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 56 km/h überschritt.
Die Bußgeldstelle der Stadt Essen verhängte wegen der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung mit Bußgeldbescheid vom 22. September 2008 eine Geldbuße in Höhe von 275,00 € sowie ein zweimonatiges Fahrverbot mit der 4-Monats-Frist des § 25 Abs. 2 a StVG. Einen Tag später, am 23.09.2009, wegen der zweiten Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße in Höhe von 150,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat, wobei der Betroffenen auch hier die 4-Monats-Frist gewährt wurde.
Gegen beide Bußgeldbescheide legte die Betroffene Einspruch ein, die beim Amtsgericht Essen in zwei getrennten Verfahren zur Verurteilung führten. Einmal zu eine Geldbuße in Höhe von 150,00 € sowie einem 2-monatigen Fahrverbot und im Parallelverfahren zu einer eine Geldbuße von 100,00 € sowie einem 1-monatigen Fahrverbot, wobei in beiden Verfahren die 4-Monats-Frist gewährt wurde.
Zum Konkurrenzverhältnis der festgestellten Geschwindigkeitsverstöße nahm das Amtsgericht Essen jeweils Tatmehrheit an, da die Geschwindigkeitsüberschreitungen von keinem „unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang gekennzeichnet sind, dass sich der gesamte Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt.“ Die in beiden Verfahren eingelegte Rechtsbeschwerde der Betroffenen zum Oberlandesgericht Hamm führte im Fall der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung zur Verfahrenseinstellung (5 Ss OWi 297/09), womit auch das zweimonatige Fahrverbot entfiel. Im Parallelverfahren, in dem es um die zweite Geschwindigkeitsüberschreitung ging, wurde die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen (5 Ss OWi 358/09), so dass es bei der Geldbuße von 150,00 € und dem Fahrverbot von einem Monat verblieb.
Das OLG Hamm kam zu dem Ergebnis, dass beide Geschwindigkeitsüberschreitungen als einheitliche Tat zu werten sind und nur ein Bußgeldbescheid hätte ergehen dürfen. Es kam also darauf an, welches Verfahren zuerst eingeleitet worden war und dies war nach den Datensatzauszügen der Bußgeldakten – zum Glück für die Betroffene – das wegen der zweiten Überschreitung mit geringer Geldbuße und einem Monat Fahrverbot. Dem nur 45 Minuten später von der Bußgeldstelle wegen der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung angelegten Verfahren stand damit das Verfahrenshindernis der Doppelverfolgung entgegen.
Aus den Gründen:
Das vorliegende Verfahren war (…) einzustellen, weil die auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergeben hat, dass der Verfolgung der der Betroffenen angelasteten Tat in vorliegender Sache von Anfang an das Verfahrenshindernis der anderweitigen Verfolgung derselben Tat (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegenstand (zu vgl. Göhler, OWiG, 14. Aufl., vor § 59 Rdnr. 37; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., Einl. Rdnr. 145; KK-Wache, OWiG, 2. Aufl., vor § 53 Rdnr. 47). Die den Gegenstand des vorliegenden Bußgeldverfahrens bildende Tat im verfahrensrechtlichen Sinn ist identisch mit der Tat, die der Betroffenen in dem Parallelverfahren (…) zur Last gelegt worden ist und wegen der das Amtsgericht die Betroffene (…) zu einer Geldbuße in Höhe von 100,- € und zu einem Fahrverbot für die Dauer eines Monats verurteilt hat.
Aufgrund dieser Tatidentität stand dem vorliegenden Verfahren von Anfang an das Verfahrenshindernis der anderweitigen Verfolgung durch die Bußgeldbehörde entgegen, so dass das vorliegende Verfahren schon vor Erlass des Bußgeldbescheides (…) hätte eingestellt werden müssen. Aus den Vorgangsdatenblättern zur Historie beider Bußgeldverfahren ergibt sich, (…) dass – nach Durchführung entsprechender Fahrerermittlungen – (…) gegen die Betroffene als Täterin/Fahrerin ermittelt wurde (…). Während die diesbezügliche Verfügung der Sachbearbeiterin (…) am 22. August 2008 um 11.57 Uhr getroffen wurde, ist im Vorgangsdatenblatt zum Parallelverfahren (…) als Zeitpunkt der diesbezüglichen Verfügung der (anderen) Sachbearbeiterin (…) das Datum 22. August 2008, 11.12 Uhr, genannt.
Aufgrund dieser zeitlichen Abfolge stand der Verfolgung des der Betroffenen angelasteten Geschwindigkeitsverstoßes in vorliegender Sache schon zum Zeitpunkt der Einleitung dieses Verfahrens gegen die Betroffene das Hindernis der anderweitigen Verfolgung der(selben) Tat in dem gegen die Betroffene bereits zuvor eingeleiteten und anhängigen Bußgeldverfahren (…) entgegen. Auf den Zeitpunkt des Erlasses der jeweiligen Bußgeldbescheide kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. (…)
Die der Betroffenen in den beiden vorgenannten Bußgeldbescheiden vorgeworfenen und – unzulässigerweise – in zwei gesonderten Bußgeldverfahren verfolgten Geschwindigkeitsverstöße, die bei zwei verschiedenen, im Abstand von einer Minute und 11 Sekunden durchgeführten Messungen festgestellt wurden, stellen eine einheitliche Tat im verfahrensrechtlichen (und materiell-rechtlichen) Sinn dar. Der Tatbegriff im Ordnungswidrigkeitenrecht ist mit dem des Art. 103 Abs. 3 GG und des Strafprozessrechts (vgl. §§ 155, 264 StPO) identisch (vgl. Göhler, a.a.O., vor § 59 Rdnr. 50 m.w.N.). Die Tat im prozessualen Sinn ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und der das gesamte Verhalten des Täters umfasst, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt (zu vgl. Göhler, a.a.O., vor § 59 Rdnr. 50 a; Meyer-Goßner, a.a.O., § 264 Rdnr. 2 und 2 a m.w.N.).
Besteht zwischen mehreren Handlungen in materiell-rechtlicher Hinsicht Tateinheit (vgl. § 19 OWiG), bilden diese auch prozessual eine Tat im Rechtssinne. Umgekehrt können aber auch mehrere, tatmehrheitlich (im materiell-rechtlichen Sinn) begangene Handlungen eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne bilden, was dann der Fall ist, wenn die einzelnen Handlungen inhaltlich so miteinander verknüpft sind, dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde (zu vgl. BVerfGE 45, 434 (= NJW 1978, 414); BGHSt 23, 141; 29, 288, 293; 35, 14; Göhler, a.a.O.; Meyer-Goßner, a.a.O., § 264 Rdnr. 3 m.w.N.).
Bei mehreren, im Verlaufe einer Fahrt begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen eines Kraftfahrzeugführers handelt es sich nach wohl einhellliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum im Regelfall um mehrere Taten im materiellen und prozessualen Sinne (zu vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 30. August 2007 – 3 Ss OWi 458/07 -; DAR 2006, 697 = VM 2007 Nr. 14 = VRS 111, 366; OLG Brandenburg, Beschluss vom 18. Februar 2008 – 1 Ss OWi 266 B/07 – juris -; NZV 2006, 109; BayObLG NZV 1995, 407; 1994, 448; OLG Köln NZV 1994, 292; OLG Düsseldorf NZV 2001, 273; 1994, 118; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. § 24 StVG Rdnr. 58 und 59 a; Göhler, a.a.O., vor § 19 Rdnr. 10).
Eine einzige Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit und damit schon deshalb auch (nur) eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne liegt ausnahmsweise dann vor, wenn die einzelnen Verstöße einen derart unmittelbaren zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhang aufweisen, dass sich der besagte Vorgang bei natürlicher Betrachtung auch für einen unbeteiligten Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt (vgl. OLG Hamm, OLG Brandenburg, OLG Düsseldorf und OLG Köln jeweils a.a.O.). Ein derartiger Ausnahmefall ist vorliegend gegeben. Die beiden hier in Rede stehenden Geschwindigkeitsüberschreitungen wurden in einem derart engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang und ohne erkennbare Veränderung der für die subjektive Tatseite relevanten Umstände begangen, dass sie bei natürlicher Betrachtungsweise als eine einheitliche Tat im sachlich-rechtlichen Sinn (und damit in jedem Fall auch im verfahrensrechtlichen Sinn) anzusehen sind.
So wurden die beiden Geschwindigkeitsverstöße im Abstand von nur einer Minute und 11 Sekunden begangen. Hinzu kommt, dass sich die beiden Geschwindigkeitsüberschreitungen auf einem relativ kurzen Abschnitt derselben Autobahn ereignet haben. Legt man die nach Abzug des Toleranzwertes mit 143 km/h bzw. 136 km/h ermittelte Geschwindigkeit zugrunde, so hat die Betroffene mit dem von ihr geführten Fahrzeug zwischen den beiden Messungen lediglich eine Fahrstrecke von ca. 2,3 km zurückgelegt. Aus den angefochtenen Urteilen und den darin in Bezug genommenen Messfotos geht zudem hervor, dass die Betroffene zum Zeitpunkt der Messung jeweils auf dem mittleren der insgesamt drei Fahrspuren unterwegs war; weder die Fahrgeschwindigkeit, noch die äußere Verkehrssituation hatte sich erkennbar geändert.
Anders als den den zitierten Entscheidungen des OLG Hamm zugrunde liegenden Fällen ist zwischen beiden Messungen bzw. Geschwindigkeitsverstößen eine unterschiedliche Verkehrssituation auch nicht dadurch entstanden, dass sich die Geschwindigkeitsbeschränkung durch eine neue Anordnung durch Zeichen 274 der StVO verändert und die Betroffene darauf auch reagiert hätte. Vielmehr war die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem gesamten zwischen den Messstellen durchfahrenen Streckenabschnitt durchweg auf 80 km/h beschränkt, und zwar beginnend mit der ca. 400 m vor der Messstelle T-Straße aufgestellten Leuchtzeichen-Schilderbrücke, wobei die entsprechende Beschilderung vor der zweiten Messstelle (Anschlussstelle Gelsenkirchen) lediglich wiederholt wurde. Auch eine zwischenzeitliche, nennenswerte Veränderung der Fahrgeschwindigkeit zwischen beiden Messstellen ist nicht ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, dass die Betroffene die erste Messung wahrgenommen und dessen ungeachtet – aufgrund einer neuen Willensbetätigung – die Fahrt mit nahezu unverminderter Geschwindigkeit fortgesetzt hat, fehlen ebenfalls. Beide Verstöße sind von vergleichbarem Gewicht und beruhen offensichtlich auf einer fortwährenden Missachtung der verkehrsüblichen Sorgfalt seitens der Betroffenen, die – legt man die Messfotos zugrunde – während der Fahrt offenbar unter Verwendung eines von ihr gehaltenen Handys telefonierte.
Dem von dem Amtsgericht hervorgehobenen Umstand, dass sich zwischen den Messstellen auf der Autobahn A 40 eine Auf- und Abfahrt sowie die sogenannte Buderus-Kurve befinden, kommt angesichts des aufgezeigten engen zeitlich-räumlichen und inneren Zusammenhangs zwischen „beiden“ Verkehrsverstößen bei der Beurteilung, ob diese eine Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit bilden, nach Auffassung des Senats keine maßgebliche Bedeutung zu. Dieser Umstand allein ist – insbesondere unter Berücksichtigung der durchweg auf 80 km/h beschränkten Höchstgeschwindigkeit – nicht geeignet, die einzelnen Geschwindigkeitsüberschreitungen deutlich voneinander abzugrenzen, eine neue Verkehrssituation zu begründen und damit die Annahme einer tatmehrheitlichen Begehungsweise zu rechtfertigen.
Selbst wenn man jedoch, insoweit dem Amtsgericht folgend, von zwei tatmehrheitlich i.S.d. § 20 OWiG begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen ausgehen würde, wären die beiden Geschwindigkeitsüberschreitungen dann zumindest in verfahrensrechtlicher Hinsicht als eine Tat i.S.d. §§ 46 Abs. 1 OWiG, 155, 264 StPO und Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen, denn die beiden Vorgänge sind aufgrund ihres engen räumlich-zeitlichen Zusammenhangs innerlich derart verknüpft, dass ihre getrennte Aburteilung in zwei verschiedenen Bußgeldverfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde (vgl. OLG Stuttgart NZV 1997, 243; OLG Naumburg, NJW 1995, 3332; OLG Hamburg VRS 27, 144; OLG Zweibrücken DAR 2003, 281). (…)
OLG Hamm, Beschlüsse vom 09.06.2009, Az: 5 Ss OWi 297/09; 5 Ss OWi 358/09