Nach einem Fahrradunfall verlangte der Radfahrer Schadenersatz. Der Radfahrer fuhr auf einem farblich markierten Radweg auf eine Bushaltestelle zu, an der eine Passantin mit dem Rücken dicht am Radweg stand und sich mit zwei Personen unterhielt. Aus einer Entfernung von Entfernung von 10 m, klingelte der Radfahrer, um auf sich aufmerksam zu machen, woraufhin die Passantin eine Körperbewegung in Richtung Radweg machte. Der Radfahrer bremste und stürzte über den Fahrradlenker zu Boden.
Seiner Klage gab das Landgericht Düsseldorf zunächst nur zum Teil statt, das OLG Düsseldorf verneinte dann in der Berufungsinstanz eine Mithaftung des Radfahrers und sprach ihm Schmerzensgeld und Schadenersatz zu (Urteil vom 18.06.2007 – I-1 U 278/06).
Das OLG Düsseldorf war der Auffassung, die Beklagte hafte in vollem Umfang, der Kläger hingegen müsse sich kein Mitverschulden anspruchsmindernd anrechnen lassen. Die Beklagte hätte ihre Behauptung nicht bewiesen, dass der Kläger viel schneller als die von ihm zugegebenen 15 km/h war. Der Kläger habe zwar überreagiert, dies könne ihm aber nicht angelastet werden. Er musste auch nicht damit rechnen, dass die Beklagte auf den Radweg trete, da es sich um einen getrennten Rad- und Fußweg handelte. Eine weitergehende Rücksichtnahme des Klägers sei geboten gewesen. Dem Kläger sei auch nicht anzulasten, dass er keinen Fahrradhelm getragen habe.
Der BGH kam hingegen zu der Auffassung, dass dem Kläger sehr wohl ein Mitverschulden angelastet werde müsse, so dass er seinen Schaden nicht voll ersetzt verlangen könne. Das Mitverschulden ergebe sich aber nicht aus der gefahrenen Geschwindigkeit oder aus der Tatsache, dass der Kläger keinen Helm trug, sondern vielmehr aus der fehlenden Rücksichtnahme des Klägers. Er hätte es nicht beim Klingeln belassen dürfen, sondern hätte zusätzlich noch abbremsen müssen. Auch auf getrennten Rad- und Fußwegen müssten Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht nehmen.
Aus den Gründen:
Auch das Nichttragen eines Fahrradhelms vermag unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Mitverschulden des Klägers zu begründen. Nach der bisher herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung begründet das Radfahren ohne Schutzhelm – zumindest bei Erwachsenen – nicht oder zumindest nicht ohne weiteres – den Vorwurf des Mitverschuldens (vgl. OLG Hamm NZV 2001, 86; OLG Hamm NZV 2002, 129, 131; OLG Stuttgart VRS 97 (1999), 15, 18; OLG Nürnberg DAR 1991, 173; OLG Nürnberg DAR 1999, 507; OLG Karlsruhe NZV 1991, 25; OLG Düsseldorf NZV 2007, 619; OLG Saarbrücken NZV 2008, 202, 303). Das Berufungsgericht hat hierzu – insbesondere bedingt durch die zunehmende Akzeptanz des Tragens von Fahrradhelmen – einen differenzierten Standpunkt eingenommen, indem es zwischen dem „normalen“ Freizeitfahrer, der sein Gefährt als normales Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr ohne sportliche Ambitionen einsetzt und sportlich ambitionierteren Fahrern, wie etwa Rennradfahrern, unterscheiden und nur bei letzteren eine Obliegenheitsverletzung beim Nichttragen von Schutzhelmen annehmen will. Ob dieser Auffassung zu folgen ist (zur Kritik vgl. etwa Kettler, Recht für Radfahrer, 2. Aufl., S. 151 f.), kann im vorliegenden Fall jedoch offen bleiben. Denn nach den vom Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen hätte das Tragen eines Fahrradhelms nicht den Eintritt der Verletzungen verhindern können, die der Kläger durch seinen Sturz erlitten hat. (…)
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich in einer für ihn „gefahren-neutralen“ Situation mit der Abgabe eines Klingelzeichens begnügen und ohne Reduzierung seiner Geschwindigkeit weiterfahren dürfen. (…) Das Berufungsgericht geht zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers – hier in Form einer zu heftigen und objektiv nicht erforderlichen Bremsreaktion – dann kein Verschulden darstellt, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (vgl. das vom Berufungsgericht zitierte Senatsurteil vom 16. März 1976 – VI ZR 62/75 – VersR 1976, 734 m.w.N. zum plötzlichen Platzen eines Reifens während der Fahrt sowie Senatsurteile vom 7. Februar 1967 – VI ZR 132/65 – VersR 1967, 457, 458; vom 24. Februar 1987 – VI ZR 19/86 – VersR 1988, 291 und vom 18. November 2003 – VI ZR 31/02 – VersR 2004, 392). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lag jedoch eine solche ohne Verschulden des Klägers eingetretene und für ihn nicht voraussehbare Gefahrenlage nach den Umständen des Streitfalles nicht vor (vgl. Senatsurteil vom 18. November 2003 – VI ZR 31/02 – aaO).
Es handelte sich nämlich nicht – wie das Berufungsgericht meint – um eine „gefahrenneutrale“ Situation, bei welcher der Kläger ohne Verlangsamung seiner Geschwindigkeit mit gleich bleibendem Tempo weiterfahren durfte im Vertrauen darauf, die Beklagte werde sich nicht weiter in Richtung Fahrradweg bewegen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist im Bereich der Unfallstelle der Radweg von den angrenzenden – dem Fußgängerverkehr vorbehaltenen – Verkehrsflächen, links von der Bushaltestelle und rechts von dem relativen schmalen Gehweg, weder räumlich noch baulich abgetrennt. Vielmehr ist der Radweg als Sonderweg allein durch eine anders farbige Aufpflasterung von den übrigen Verkehrsflächen abgesetzt. Die Beklagte stand nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aus Sicht des Klägers im Bereich der Bushaltestelle bereits dicht am Radweg, wandte ihm den Rücken zu und unterhielt sich mit zwei Personen, die rechts neben dem Radweg auf dem Fußweg in der Nähe eines dort befindlichen Kiosks standen. Nach der eigenen Einschätzung des Berufungsgerichts näherte sich der Kläger damit im Grenzbereich zwischen Bushaltestelle, Radweg und Fußgängerweg einer Verkehrssituation, aus der sich potentiell eine Begegnungs- und Kollisionsgefahr ergeben konnte. Die dicht neben dem Radweg stehende Beklagte hatte keinen Sichtkontakt zum Kläger und war durch ein Gespräch abgelenkt. Der Kläger sah sich durch die Situation veranlasst, 10 Meter vor der besagten Stelle ein Klingelzeichen abzugeben, was darauf schließen lässt, dass er sich einer Kollisionsgefahr durchaus bewusst war. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe unter diesen Umständen davon ausgehen dürfen, dass die Beklagte auf sein aus der Entfernung abgegebenes Klingelzeichen hören und keine weitere Bewegung in Richtung Radweg machen werde, wird (…) von den getroffenen Feststellungen nicht getragen. Denn diesen ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger durch eine Reaktion der Beklagten – etwa durch Aufnahme von Blickkontakt – davon ausgehen konnte, dass diese sein Klingelzeichen wahrgenommen hatte. Unter diesen Umständen bedurfte es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keiner weiteren konkreten Anhaltspunkte für ein bevorstehendes Überqueren des Radweges durch die Beklagte. Es reichte vielmehr aus, dass die konkrete Gefahr bestand, dass sie – abgelenkt durch das Gespräch – bereits durch eine geringfügige Körperbewegung auf den Radweg gelangen konnte.
Nicht frei von Rechtsfehlern sind schließlich auch die Ausführungen des Berufungsgerichts betreffend die Sorgfaltsanforderungen an Radfahrer bei – wie im vorliegenden Fall – getrennten Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO, bei denen das Fahrradsymbol von dem Fußgängersymbol durch einen senkrechten weißen Strich getrennt ist. Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass es in § 41 Abs. 2 Nr. 5 Buchst. c StVO lediglich heißt, auf einem „gemeinsamen“ Rad- und Gehweg (Zeichen 240 mit einer Trennung des Fußgänger- und Fahrradsymbols durch einen waagrechten Strich) hätten Radfahrer auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen. Daraus lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluss ziehen, dass auf getrennten Rad- und Fußwegen im Sinne des Zeichens 241 zu § 41 Abs. 2 Nr. 5 StVO Radfahrer auf Fußgänger (generell) keine Rücksicht zu nehmen hätten.
Nach § 1 Abs. 2 StVO hat sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Darüber hinaus gilt auch für einen Fahrradfahrer, dass dieser nur so schnell fahren darf, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht und innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten kann (vgl. § 3 Abs. 1 StVO).
Werden Rad- und Fußgängerwege auf jeweils nur optisch voneinander getrennten Verkehrsflächen so dicht aneinander vorbeigeführt, dass (…) im innerstädtischen Begegnungsverkehr abstrakt gefährliche Situationen zwangsläufig zu erwarten sind, können ähnliche Situationen entstehen wie auf gemeinsamen Rad- und Gehwegen. Solche Situationen begründen eine vergleichbare Pflicht zur Rücksichtnahme von Radfahrern auf Fußgänger jedenfalls dann, wenn sich das abstrakte Gefährdungspotential zu einer kritischen Situation verdichtet. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war dies nach den vorstehenden Ausführungen der Fall. Der mithin nach § 1 Abs. 2 StVO gebotenen Rücksichtsnahme hat der Kläger nicht schon (…) dadurch Genüge getan, dass er in einer Entfernung von 10 Metern durch Klingelzeichen auf sich aufmerksam machen wollte. Ohne erkennbare Reaktion der Beklagten auf dieses Klingelzeichen war er vielmehr gehalten, seine Geschwindigkeit zu reduzieren und sich bremsbereit zu verhalten. Dies wird das Berufungsgericht bei seiner erneuten Abwägung zu berücksichtigen haben.
Bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB ist in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. etwa Senatsurteil vom 9. Juli 1968 – VI ZR 171/67 – VersR 1968, 1093, 1094 m.w.N.; vom 20. Januar 1998 – VI ZR 59/97 – VersR 1998, 474, 475). Es kommt danach für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (vgl. Senatsurteile vom 20. Januar 1998 – VI ZR 59/97 – aaO; vom 12. Juli 1988 – VI ZR 283/87 – VersR 1988, 1238, 1239 m.w.N.). Die unter diesem Gesichtpunkt vorzunehmende Abwägung kann zwar in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss (vgl. Senatsurteil vom 20. Januar 1998 – VI ZR 59/97 – aaO). Unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung gemäß § 254 BGB ist eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten aber nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen (Senatsurteile vom 21. Februar 1995 – VI ZR 19/94 – VersR 1995, 583, 584 und vom 7. Februar 2006 – VI ZR 20/05 – VersR 2006, 663). Ob ein vollständiger Haftungsausschluss gerechtfertigt ist, kann jeweils nur nach einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles entschieden werden (vgl. Senatsurteile vom 19. November 1991 – VI ZR 69/91 – VersR 1992, 371, 372 und vom 7. Februar 2006 – VI ZR 20/05 – aaO). Nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen ist eine völlige Haftungsfreistellung des Klägers im Streitfall nicht gerechtfertigt. (…)
BGH, Urteil vom 6. November 2008 – VI ZR 171/07 (Lexetius.com/2008,3511)
Vorinstanzen: LG Düsseldorf, Entscheidung vom 20.11.2006 – 12 O 204/05 ./. OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 18.06.2007 – I-1 U 278/06 –