Das Amtsgericht Minden hatte den Betroffenen wegen eines Rotlichtverstoßes von mehr als einer Sekunde zu einer Geldbuße von 187,50 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Ein Polizeibeamter hatte eine gezielte Rotlichtüberwachung durchführt und gab an, dass er ca. 12 -13 Meter entfernt von der Haltelinie gestanden und freie Sicht auf die Ampelanlage gehabt habe. Zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie durch den Betroffenen habe die Ampel schon zwei Sekunden „rot“ gezeigt.
Aus den Gründen:
(…) Grundsätzlich kann – jedenfalls bei einer gezielten Ampelüberwachung – die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes aufgrund der Schätzung von Polizeibeamten festgestellt werden, wenn der Polizeibeamte durch Zählen („einundzwanzig, zweiundzwanzig“) zu einer Schätzung gelangt, wonach die Rotlichtphase bei Überfahren der Haltelinie schon mindestens zwei Sekunden andauerte. Diese Schätzung muss aber für das Tatgericht und das Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar sein. Deswegen muss das tatrichterliche Urteil Feststellungen dazu enthalten, nach welcher Methode die Zeit geschätzt wurde und Angaben zum Ablauf des Rotlichtverstoßes, zur Entfernung des Fahrzeugs zur Lichtzeichenanlage und zu einer ggf. vorhandenen Haltelinie treffen (OLG Hamm Beschl. v. 24.09.2007 – 3 SsOWi 620/07 – juris; OLG Hamm NZV 2002, 577; OLG Düsseldorf VRS 93, 462, 463 f.; OLG Hamburg NZV 2005, 209, 210; OLG Köln VRS 106, 214, 215; vgl. auch OLG Jena Beschl. v. 29.10.2003 – 1 Ss 138/03 – juris).
(…) Es ist gesetzlich nicht ausgeschlossen, dass sich ein Gericht die notwendige Überzeugung von einem qualifizierten Rotlichtverstoß über eine Schätzung eines Zeugen verschafft. Es muss lediglich – nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 261 StPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheiden. Es genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen (BGH NStZ-RR 2005, 149; BGH NStZ 1988, 236; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 261 Rdn. 2 m.w.N.). Es gibt keinen Grund, warum der Tatrichter sich diese Überzeugung nicht aufgrund einer Schätzung eines Polizeibeamten unter Einhaltung der oben genannten Voraussetzungen verschaffen können sollte. Eine Schätzung ist zwar mit Unsicherheiten versehen. Indes sind diese bei Einhaltung der dargestellten Voraussetzungen soweit ausgeschaltet, dass ein ausreichendes Maß an Sicherheit erreicht wird. Bei einer gezielten Rotlichtüberwachung ist den tätigen Polizeibeamten bekannt, worauf es ankommt. Ihre Wahrnehmung ist daher entsprechend geschärft. Kommen sie durch Zählen („einundzwanzig, zweiundzwanzig“) zu dem Schätzergebnis, dass die Rotlichtphase schon zwei Sekunden andauerte, so bleiben keine vernünftigen Zweifel, dass die Rotphase jedenfalls mehr als eine Sekunde andauerte.
Etwaigen Schätzungenauigkeiten wird durch das Erfordernis, dass durch die Methode des Nachzählens mindestens eine Rotphase von zwei Sekunden (jede der gedanklich ausgesprochenen Zahlen „einundzwanzig, zweiundzwanzig“ entspricht bei normaler Sprechgeschwindigkeit – wenigstens – einer Sekunde) geschätzt werden muss, hinreichend Rechnung getragen. Da die Polizeibeamten bei einer gezielten Rotlichtüberwachung wissen, worauf es ankommt, ist ausgeschlossen, dass sie schon vor Umspringen der Ampelanlage auf „rot“ zu zählen beginnen. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund für die Annahme, dass der Beamte, der unter besonderen Strafandrohung des § 344 Abs. 2 S. 2 StGB steht, etwa durch bewusstes besonders schnelles Zählen versucht, einen Autofahrer zu Unrecht wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes zu belangen. Ein unbewusstes zu schnelles Zählen kann angesichts von Ausbildung bzw. Erfahrung des Beamten und angesichts des Umstandes, dass, er bei einer gezielten Rotlichtüberwachung weiß, worauf es ankommt und seine Wahrnehmung besonders geschärft ist, ebenfalls ausgeschlossen werden. Ist darüber hinaus auch ihre Beobachtungsposition so, dass sie sowohl Ampel, als auch den Vorbereich und die Haltelinie im Blick haben, können keine Zweifel bestehen, dass wenn sie aufgrund der Zählmethode zu einer Schätzung von mindestes zwei Sekunden hinsichtlich des Andauerns der Rotlichtphase gelangen, diese jedenfalls mehr als eine Sekunde bis zu ihrem Überfahrenwerden angedauert hat. (…)
OLG Hamm, Beschluss vom 12.03.2009, Az: 3 Ss OWi 55/09
Vorinstanz: AG Minden, 15 OWi 26/08
Praxisrelevanz:
Wenn die Haltelinie an einer Ampel überfahren wird, die bereits länger als eine Sekunde rot zeigte, liegt ein sogenannter qualifizierter Rotlichtverstoß vor, der neben einem Bußgeld in aller Regel ein einmonatiges Fahrverbot nach sich zieht. Es ist von daher verständlich, dass an eine Schätzung der Länge der Rotlichtphase bestimmte Anforderungen gestellt werden. Die Schätzung eines Zeitablaufs ist schon allgemein mit hoher Unsicherheit behaftet. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Polizeibeamter den das Rotlicht überfahrenden Autofahrer nicht gezielt, sondern zufällig beobachtet. Bei einer gezielten Rotlichtüberwachung kann für die Feststellung der Rotlichtzeit das Zählen von „21, 22…“, ausreichen, wenn andere objektive Umstände die Richtigkeit dieser Schätzung erhärten.
Der 3. Senat entschied in großer Besetzung mit drei Richtern, da innerhalb des OLG Hamm hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten wurden. Der frühere Vorsitzende des 5. Senats hatte die Ansicht vertreten, dass bei qualifizierten Rotlichtverstößen auch bei gezielter Ampelüberwachung eine Schätzung durch Zählen nicht ausreiche (NZV 2001, 177, 178). Der Vorsitzende des neu eingerichteten 5. Strafsenats hatte auf Anfrage des 3. Senats mitgeteilt, dass dort an dieser Rechtsprechung nicht festgehalten wird. Auch die übrigen Strafsenate haben mitgeteilt, dass die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes im Rahmen einer gezielten Ampelüberwachung durch Zählen für zulässig erachtet wird. Eine tragende Abweichung von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 03.08.1999 (2 Ss OWi 101B/99) liege nach Auffassung des 3. Senats nicht vor, da dort ein Schätzung auf der Grundlage von Zählen bis zur Zahl „dreiundzwanzig“ für ausreichend, nicht aber für zwingend erforderlich erachtet wurde. Auch der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 04.11.2002 (DAR 2003, 85) lasse sich nicht entnehmen, dass dort ein Zählen bis zur Zahl „dreiundzwanzig“ zwingend für erforderlich erachtet wird. Auch das OLG Jena (Beschluss vom 07.11.2005 – 1 Ss 124/05, DAR 2006, 225 f.) ist der Meinung, dass auch wenn im allgemeinen die Zeitschätzung eines Polizeibeamten hierfür nicht ausreichend sei, zusätzliche glaubhaft geschilderte Umstände zu der Schlussfolgerung führen können, dass die Rotphase der Ampel bei Überqueren der Haltelinie bereits länger als 1 Sekunde andauerte.