OLG Köln – Minderjährige Kinder haften in der Regel nicht bei Verkehrsunfällen


Ein Neunjähriger und seine ebenfalls neunjährige Spielkameradin fuhren auf ihren Fahrrädern über eine Straße. Ein Pkw näherte sich, bremste und kam noch rechtzeitig zum Stehen. Während das Mädchen unbeschadet am Pkw vorbeikam, fuhr der Junge mit seinem Fahrrad, das außer einer Rücktrittbremse keine funktionsfähige Bremse aufwies, ungebremst gegen das Fahrzeugs und verletzte sich. Die Eltern des Jungen klagten vor dem Landgericht Köln auf Schadenersatz und Schmerzensgeld, wobei sie Prozesskostenhilfe beantragten. Das Landgericht Köln wies den Prozesskostenhilfeantrag mangels Erfolgsaussichten zurück.
Auf die Beschwerde hob das Oberlandesgericht Köln den Beschluss des Landgerichts auf, da Erfolgsaussicht der beabsichtigten Klage bestehen. Die Halterin und die Haftpflichtversicherung haften dem Jungen für unfallbedingte materielle und immaterielle Schäden gemäß §§ 7 Abs. 1 StVG, 1, 3 PflVG.

Aus den Gründen:

Die Antragsgegner können sich gegenüber dem Kläger nicht auf Mitverschulden berufen. Dieser Einwand ist gemäß § 828 Abs. 2 S. 1 BGB ausgeschlossen. Diese Vorschrift findet auch im Rahmen der Prüfung nach §§ 9 StVG, 4 HPflG, 254 BGB Anwendung (BGH NJW 2005, 354 ff). Der Kläger hatte zum Unfallzeitpunkt das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet. Die Vorschrift ist nach Ansicht des Senats auf den vorliegenden Unfall anwendbar. § 828 Abs. 2 S. 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.07.2000 greift nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat (BGH NJW 2005, 354; BGH NJW-RR 2005, 327 ff). Für die Einführung einer solchen Begrenzung sprach, dass sich Kinder im motorisierten Verkehr durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befinden (BGH NJW 2005, 354 ff). Dies schließt es nicht grundsätzlich aus, dass es auch im fließenden Verkehr Situationen geben kann, bei denen es an einer solchen typischen Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs fehlt und § 828 Abs. 2 S. 1 BGB keine Anwendung findet. Dies ist bei dem streitgegenständlichen Unfallhergang jedoch nicht der Fall. Der Unfall ist geprägt von der typischen Gefahrensituation beim Überqueren einer Fahrstraße im Bereich des fließenden Verkehrs durch ein Kind. Gerade Kinder im Alter des Klägers und jünger, die sich in Begleitung anderer Kinder befinden, folgen einem vorausfahrenden Kind oft „blind“, ohne auf den Straßenverkehr zu achten. Das gleichzeitige Beobachten des anderen Kindes und das Registrieren eines herannahenden Fahrzeugs stellt eine typische Überforderungssituation eines Kindes unter 10 Jahren dar, auch wenn das Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision letztlich bereits stand.

Die Anwendung des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB ist nicht durch S. 2 dieser Vorschrift ausgeschlossen. Von einem vorsätzlichen Handeln des Klägers, für das die Antragsgegner darlegungs- und beweispflichtig sind, kann aufgrund des Unfallhergangs nicht ausgegangen werden. Das Fahren mit einem Fahrrad ohne hinreichende Bremsvorrichtung ist ein typisches leichtsinniges Verhalten eines Kindes im Alter des Klägers. Das ungebremste Hineinfahren in das Fahrzeug der Antragsgegnerin zu 1) stellt sich als Folge dieses Verhaltens dar. Daraus kann nicht auf ein vorsätzliches Handeln, auch nicht in der Form des bedingten Vorsatzes, d.h. eines billigen Inkaufnehmens einer als möglich vorgestellten Folge, geschlossen werden.

Der Kläger haftet unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens auch nicht für eine mögliche Aufsichtspflichtverletzung seiner Eltern. Ein Minderjähriger muss mangels schuldrechtlicher Beziehungen für ein Mitverschulden seines aufsichtspflichtigen gesetzlichen Vertreters nicht einstehen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, § 9 StVG, Rn 11).

Da der Mitverschuldenseinwand gegenüber dem Kläger nicht erhoben werden kann, kommt es nicht darauf an, ob der Kläger das von ihm gefahrene Fahrrad erst kurze Zeit vor dem Unfall gefunden hatte oder es sein eigenes Fahrrad war.

OLG Köln, Beschluss vom 02.04.2007, AZ: 24 W 13/07

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