OLG Karlsruhe – Haftung eines Kinderarztes wegen unterlassener Überweisung zum Augenarzt bei U 5


In seinem ersten Lebensjahr erkrankte der Kläger an einem beidseitigen Retinoblastom (maligner Netzhauttumor), weshalb ihm im folgenden Jahr beide Augen operativ entfernt werden mussten. Er verlangt von dem ihn seit seinem 2. Lebensmonat als Kinderarzt betreuenden Beklagten, einem Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, wegen eines Behandlungsfehlers Schmerzensgeld, seine Eltern machen materielle Mehraufwendungen – vorwiegend Fahrtkosten – geltend, alle Kläger begehren die Feststellung, dass der Beklagte ihnen künftige materielle und immaterielle Schäden zu ersetzten hat.

Der Kläger befand sich seit seinem 2. Lebensmonat in ständiger ärztlicher Betreuung des Beklagten, der im 4. Lebensmonat die U 4 und im 7. Lebensmonat die U 5-Untersuchung vorgenommen hat. Die Eltern des Klägers stellten nach ihrem Vortrag im 4. oder 5. Lebensmonat ein Schielen ihres Kindes fest. Bei der U 5 wurde über das Schielen gesprochen, der Beklagte riet jedoch zu einem abwartenden Beobachten und veranlasste auch in der Folgezeit, obwohl ihm das Kind vier Mal u.a. wegen Erkältungen vorgestellt worden war, keine weitergehende Abklärung. Auf eigene Veranlassung suchten die Eltern im 9. Lebensmonat einen Augenarzt auf, der nach einer Untersuchung die Verdachtsdiagnose Retinoblastom stellte und den Kläger sofort in eine Augenklinik überwies. In einer Fachklinik wurde festgestellt, dass das rechte Auge infolge der Erkrankung vollständig und das linke Auge zu 90 % erblindet war. Es mussten wegen der Gefahr von Metastasenbildung aufgrund des weit fortgeschrittenen Tumors zunächst das rechte Auge und wenige Tage später auch das linke Auge entfernt werden.

Das Landgericht hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ein Schmerzensgeld von 260.000 Euro und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 260 Euro zu bezahlen sowie den Eltern materiellen Schaden in Höhe von ca. 3.000 Euro zu ersetzen, und hat festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern weitere Schäden zu ersetzen.

Die Berufung des Beklagten zum Oberlandesgericht Karlsruhe – Senat für Arzthaftungssachen – hatte lediglich in Bezug auf die Höhe des Schmerzensgeldes Erfolg.

Wie das Landgericht hat auch der Senat festgestellt, dass der Kläger gegen den Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch hat, weil der Beklagte ihn anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U 5 nicht zu einem Augenarzt überwiesen hat, was zur Diagnose der Retinoblastome geführt und eine vollständige Erblindung möglicherweise verhindert hätte. Nach den Ausführungen der kinderärztlichen Sachverständigen ist der Senat der Überzeugung, dass das einen Behandlungsfehler darstellt. Die Feststellung des Schielens in diesem Alter wäre unmittelbarer und dringender Anlass gewesen, den Kläger allerspätestens im Verlauf einer Woche in augenärztliche Untersuchung zu bringen. Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass es sich hier nur um einen Diagnosefehler handele, weil er von einem primären Schielen ausgegangen sei. Es gehört zum Grundwissen jedes Kinderarztes, dass Schielen ab einem Alter von 3-4 Monaten stets behandlungsbedürftig ist, weil es ein Symptom für verschiedene ernst zu nehmende Augenkrankheiten und ein Leitsymptom für die beim Kläger vorliegenden Retinoblastome ist. In diesem sogenannten fundamentalen Diagnoseirrtum liegt ein grober Behandlungsfehler, der dazu geführt hat, dass beim Kläger nicht nur die Entfernung des rechten, bereits vollständig erblindeten Augapfels erfolgen musste, sondern auch diejenige des linken Augapfels. Nach der Darstellung des Sachverständigen hätte das rechte Auge in jedem Fall entfernt werden müssen, ohne zeitliche Verzögerung wäre aber im linken Auge möglicherweise eine Sehschärfe von 30 % erhalten geblieben. Deshalb war der Fehler des Beklagten geeignet, den eingetretenen Erfolg (Wachstum der Tumore, Erblindung und Notwendigkeit der Entfernung auch des linken Auges) herbeizuführen. Den Beweis, dass in jedem Fall eine vollständige Erblindung eingetreten wäre, hat der Beklagte nicht erbracht.

Dem Kläger steht wegen der erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigung eine angemessene Entschädigung zu. Hier fällt die schwere Gesundheitsschädigung ins Gewicht, die die gesamte Lebensführung in erheblichem Umfang beeinträchtigen wird. Bei einer verbleibenden Sehschärfe von 30 % auf dem linken Auge hätte der Kläger sich in seiner Umgebung orientieren können, er hätte – wenn auch unscharf – auf alle Entfernungen sehen, eine übliche Schulausbildung durchlaufen können und auch eine erheblich freiere Berufswahl gehabt. Darüber hinaus ist ausnahmsweise das Regulierungsverhalten der Haftpflichtversicherung des Beklagten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen. Zwar steht es dem Beklagten frei, sich gegen den Vorwurf eines Behandlungsfehlers zu verteidigen und auch Rechtsmittelmöglichkeiten auszuschöpfen. Jedoch hat hier die ärztliche Gutachterstelle bereits 2002 einen Behandlungsfehler konstatiert. Alle Sachverständigen, mit Ausnahme eines von allen als unhaltbar bezeichneten Privatsachverständigengutachtens des Versicherers, haben nicht an dem Behandlungsfehler des Beklagten gezweifelt. Dennoch hat die Haftpflichtversicherung keinerlei Bereitschaft zur Regulierung gezeigt, sondern über weitere 4 Jahre die klaren Gutachten in Zweifel gezogen. Dies geht über das hinzunehmende Maß der Verteidigung einer Versicherung hinaus.

Der Senat hat einen Kapitalbetrag von 90.000 Euro als angemessen erachtet. Der Kapitalbetrag, den das Landgericht neben der Rente zugesprochen hat, liegt weit oberhalb dessen, was die Rechtsprechung in der Regel für vergleichbare Fälle als Schmerzensgeld gewährt. Hinsichtlich des Rentenbetrages, des materiellen Schadensersatzes für die Eltern und der Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden hat der Senat die landgerichtliche Entscheidung bestätigt. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 14.11.2007 – 7 U 251/06

Quelle: Pressemitteilung des OLG Karlsruhe vom 19.11.2007

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