Bundessozialgericht – „Hartz-IV“-Empfänger müssen bei Medikamenten zuzahlen


Der 1955 geborene Kläger ist bei der beklagten Betriebskrankenkasse krankenversichert. Er war bis Ende 2003 gemäß § 61 SGB V a.F. von der Zuzahlungspflicht zu Arzneimitteln usw. befreit. Er bezog Arbeitslosenhilfe in Höhe von wöchentlich 148,19 Euro. Das GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) begründete neben Leistungskürzungen zum 1. Januar 2004 Zuzahlungspflichten u.a. für Arbeitslosenhilfe-Bezieher. Deshalb hob die Beklagte den Befreiungsbescheid auf.

Sie berief sich darauf, der Kläger habe als chronisch Erkrankter 1 v.H. der Bruttoeinnahmen als Zuzahlung zu entrichten. Sie befreite ihn erst im Oktober 2004 für den Rest des Jahres von weiteren Zuzahlungen. Die Beklagte setzte die Belastungsgrenze des Klägers für Zuzahlungen in den Jahren 2005 und 2006 auf jeweils 41,40 Euro fest und befreite ihn jeweils nach Zuzahlung dieses Betrags für den Rest des Jahres von weiteren Zuzahlungen. Der Kläger meint, er werde durch die ihm abverlangten Zuzahlungen unzu¬mutbar und verfassungswidrig belastet, weil deshalb sein Existenzminimum nicht mehr gewährleistet sei. Seine Klage ist in allen Instanzen erfolglos geblieben.

Das Bundessozialgericht konnte sich in seiner Entscheidung vom 22. April 2008 – B 1 KR 10/07 R demgegenüber nicht von einem Eingriff in das Existenzminimum überzeugen. Der Kläger hatte ohne eigene Beitragslast im gesamten Zeitraum Anspruch auf alle GKV-Leistungen wie ein Beschäftigter. Zusätzlich erhielt er 2004 insgesamt 6.757,66 Euro Arbeitslosenhilfe, nahezu das Doppelte des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand in Rheinland-Pfalz. 2005 und 2006 bezog er 345 Euro als Regelleistung und zusätzlich Zahlungen für Unterkunft und Heizung. Die Darlehensregelung in § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II ermöglichte, dass der Zuzahlungsbetrag von 41,40 Euro jährlich nicht vollständig auf einmal, sondern nur in monatlichen Raten zu jeweils 3,45 Euro zu entrichten war.

Das Grundgesetz garantiert mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot, dass dem Einzelnen das Existenzminimum gewährleistet wird. Über dessen sozialrechtlich zu gewährende Mindesthöhe hat in erster Linie der Gesetzgeber zu entscheiden. Er darf dabei die jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Je stärker der Gesetzgeber sich den denkbar untersten verfassungsrechtlichen Grenzen des Existenzminimums nähern will, desto geringer wird sein Regelungsspielraum. Zugleich müssen seine Ermittlungsergebnisse im Tatsächlichen umso zuverlässiger sein. Bei wirtschaftlichem Wohlstand in Deutschland, bei einer von Überfluss an materiellen Gütern geprägten Gesellschaft, ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, zwecks Achtung der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Inland lebenden Bedürftigen jedenfalls das zur physischen Existenz Unerlässliche zu gewähren. Jenseits der Bestimmung des „physischen Existenzminimums“ steht ihm ein weites Gestaltungsermessen zu.

Die Ausgestaltung der Zuzahlungspflicht und der Sozialleistungen für Leistungsbezieher nach dem SGB II zielt nicht auf die denkbar untersten verfassungsrechtlichen Grenzen ab, das physische Existenzminimum, sondern geht darüber hinaus. Das Regelungsgeflecht knüpft an die frühere Bemessung der Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz als einer eindeutig verfassungsrechtlich gesicherten Grundlage an und bezieht auch die Gewährung eines soziokulturellen Leistungsanteils mit ein. Der Gesetzgeber durfte wegen der neuen Koordinierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch das SGB II zudem Erkenntnisse und Erfahrungen sammeln. Er hat vertretbar die Werte der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 hochgerechnet.

BSG, Urteil vom 22.04.2008, Az.: B 1 KR 10/07 R (B. ./. Taunus BKK)

Quelle: Medieninformation des BSG Nr. 17/08 vom 22.04.2008

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