Nach einem Kirmesunfall, bei dem ihre Kinder verletzt wurden, schloss deren Mutter 2004 einen Abfindungsvergleich über ein zu zahlendes Schmerzensgeld in Höhe von 132.500 EUR. Nach Eingang der Zahlung legte die Mutter diese in Aktiendepots auf den Namen ihrer Kinder und einen Teilbetrag auf ihren Namen an. Ab Januar 2005 bezog die Mutter zusammen mit ihrem Lebensgefährten Sozialleistungen. Auf Grund eines Datenabgleichs erlangte die ARGE im Oktober 2006 Kenntnis von den Zinseinkünften aus den Kapitalanlagen und hob die Leistungsbewilligung für 2005 teilweise auf und setzte die Leistungen im Übrigen neu fest.
Die Mutter erhob Widerspruch, dem teilweise abgeholfen wurde. Im Übrigen wies die ARGE den Widerspruch mit der Begründung zurück, die zugeflossenen Zinseinkünfte seien als einmaliges Einkommen im Rahmen der Bedarfsberechnung zu berücksichtigen und auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen. Hiergegen erhob die Mutter mit Erfolg Klage zum Sozialgericht Aachen.
Aus den Gründen:
(…) Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig, soweit die Beklagte hiermit den Bewilligungsbescheid (…) teilweise mit der Begründung aufgehoben hat, die Klägerin zu 1) habe vor Bekanntgabe des Bewilligungsbescheides Einkommen in Form der (…) gutgeschriebenen Zinseinkünfte erzielt. (…)
Nach § 11 Abs. 1 SGB II sind Einkommen grundsätzlich alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Ausgenommen sind kraft Gesetzes jedoch die in § 11 Abs. 1 SGB II sowie in § 11 Abs. 3 SGB II und § 1 Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) genannten Leistungen und Zuflüsse. Demgegenüber sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen (§ 12 Abs. 1 SGB II). Da das Gesetz eine weitergehende Definition der Begriffe Einkommen und Vermögen nicht enthält, erfolgt die Abgrenzung nach der bereits zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entwickelten sog. Zuflusstheorie (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.03.2006, Az.: L 20 B 72/06 AS, www.sozialgerichtsbarkeit.de; Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 11 Rn. 21 m.w.N.; zum BSHG: BVerwG, Urteil vom 18.02.1999, Az.: 5 C 35/97, www.juris.de; Urteil vom 19.02.2001, Az.: 5 C 4/00, www.juris.de). Danach ist Einkommen alles, was dem Leistungsberechtigten während eines Bedarfszeitraums zufließt.
Demgegenüber ist als Vermögen im Sinne eines Bestandes von Sachen und Rechten alles anzusehen, was der Hilfebedürftige bei Beginn des Leistungsbezuges bereits hat oder was er nach Beginn des Leistungsbezugs aus der Verwertung eines Vermögensgegenstandes erhält (BVerwG, Urteil vom 18.02.1999, a.a.O.). Eine ähnliche Abgrenzung nimmt auch das BSG im Arbeitsförderungsrecht vor, indem es als Einkommen all das ansieht, was zufließt, während als Vermögen ein Bestand von Sachen und Rechten (mit Geld oder Geldeswert) in der Hand des Berechtigten anzusehen ist (BSG, Urteil vom 11.02.1976, Az.: 7 RAr 159/74, BSGE 41, 187 ff., 188; Urteil vom 20.06.1978, Az.: 7 RAr 47/77, SozR 4100 § 138 Nr. 3). Dieser Differenzierung ist auch für den Anwendungsbereich des SGB II zu folgen.
Entscheidend ist somit einzig, ob der Wert bereits vor Leistungsbezug vorhanden war – dann ist dieser als Vermögen einzuordnen – oder ob er erst während des Leistungsbezugs erlangt worden ist, dann handelt es sich um Einkommen (BSG, Urteil vom 30.09.2008, Az.: B 4 AS 29/07 R, www.bundessozialgericht.de m.w.N.; LSG NRW, Urteil vom 20.08.2007, Az.: L 20 AS 99/06). Da die Schmerzensgeldforderung spätestens im Oktober 2004 und damit vor erstmaliger Beantragung der Leistungen der Klägerin zu 1) und den Klägern zu 3) und 4) zugeflossen ist, handelt es sich hierbei, soweit diese bei Beginn des Leistungsbezugs noch vorhanden ist, nach der Zuflusstheorie um Vermögen.
Demgegenüber sind die aus der Schmerzensgeldforderung nach erstmaliger Antragstellung erzielten Zinsen grundsätzlich als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II einzuordnen und teilen damit im Ergebnis grundsätzlich nicht das rechtliche Schicksal des Vermögens (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008, Az.: B 4 AS 57/07 R, Rn. 17 f., www.bundessozialgericht.de).
Soweit danach während des Leistungsbezugs ausgezahlte Zinsen grundsätzlich als Einkommen zu berücksichtigen sind, ist deren Berücksichtigung im Falle von Zinseinkünften aus Schmerzensgeld dennoch ausgeschlossen. Dies folgt zwar nicht bereits aus § 13 Abs. 1 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 1 Nr. 1 ALG II-V, da die der Klägerin zu 1) im Januar 2005 zugeflossenen Zinseinkünfte in Höhe von 51,78 EUR bereits für sich genommen einen Betrag von 50,00 EUR im Kalenderjahr übersteigen.
Zinsen aus Schmerzensgeld werden jedoch durch die Regelung des § 11 Abs. 3. Nr. 2 SGB II geschützt. Hiernach sind als Einkommen solche Entschädigungen nicht zu berücksichtigen, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, nach § 253 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geleistet werden. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dem steht nicht entgegen, dass § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II seinem Wortlaut nach nur die Entschädigung selbst, also das der Klägerin zu 1) und den Klägern zu 3) und 4) im Oktober 2004 zugeflossene Schmerzensgeld, nennt. Die Regelung ist jedoch dahingehend auszulegen, dass auch die aus der Entschädigung gezogenen Früchte, so insbesondere Kapitalzinsen, von der Berücksichtigung als Einkommen ausgeschlossen sind. Dies folgt insbesondere aus dem Zweck des gewährten Schmerzensgeldes selbst sowie den damit untrennbar verbundenen rechtlichen Folgen im Rahmen der Berücksichtigung des Schmerzensgeldes als Einkommen oder Vermögen im Sinne der §§ 11 und 12 SGB II.
Das Schmerzensgeld dient dem Zweck, einen angemessenen Ausgleich für einen erlittenen immateriellen Schaden sowie eine Genugtuung für das erlittene Unrecht zu gewähren. Da dieser Ausgleich gerade nicht von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erfasst wird und der Zweck des Schmerzensgeldes als solcher im Falle einer Berücksichtigung vereitelt würde, ist ein gezahltes Schmerzensgeld selbst im Rahmen der §§ 11, 12 SGB II umfassend geschützt. Handelt es sich hierbei um Einkommen, folgt der Schutz bereits aus § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II. Soweit demgegenüber eine Berücksichtigung als Vermögen in Betracht kommt, enthält zwar § 12 SGB II eine dem § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II entsprechende ausdrückliche Regelung nicht. Die Verwertung des Vermögens aus einer Schmerzensgeldzahlung stellt jedoch eine besondere Härte im Sinne des § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II dar, welche zur Unverwertbarkeit dieses Vermögens führt (BSG, Urteil vom 15.04.2008, Az.: B 14/7b AS 6/07 R, Rz. 16, www.bundessozialgericht.de; Bayerisches LSG, Urteil vom 31.08.2006, Az.: L 7 AS 3/06, www.sozialgerichtsbarkeit.de; zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG): BVerwG, Urteil vom 18.05.1995, Az.: 5 C 22/93, NJW 1995, S. 3001).
Hierfür spricht neben dem Zweck des Schmerzensgeldes insbesondere, dass anderenfalls ein Schmerzensgeld, welches im Monat seines Zuflusses als Einkommen nicht zu berücksichtigen wäre, ab dem Folgemonat gleichwohl der vollen Verwertung als Vermögen unterliegen würde. Dies würde jedoch dem Schutzgedanken des § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II und dem bereits dargelegten Zweck des Schmerzensgeldes widersprechen (Bayerisches LSG, Urteil vom 31.08.2006, a.a.O.) Dabei ist der sich aus den gesetzlichen Vorschriften ergebende Schutz nicht auf bestimmte Vermögensteile oder Freibeträge beschränkt. Vielmehr greift ein umfassender Schutz ein mit der Folge, dass das Schmerzensgeld jeweils in seiner gesamten noch vorhandenen Höhe nicht zu berücksichtigen ist (BSG, Urteil vom 15.04.2008, a.a.O., Rz. 19), wobei eine Unterscheidung zwischen Entschädigungsleistung und vor Leistungsbezug zugeflossenen Zinsen nicht zu erfolgen hat. Hierfür spricht, dass sich die Höhe der Entschädigung allein nach der Schwere der Schädigung und dem Gewicht des erlittenen Unrechts bestimmt mit der Folge, dass eine Beschränkung der freien Verfügbarkeit nicht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil vom 18.05.1995, a.a.O.; VG Münster, Urteil vom 07.03.2006, Az.: 5 K 2547/04, www.beck-online.de). Unerheblich ist daher insbesondere, ob das Schmerzensgeld zeitnah zugeflossen ist oder der Betroffene dieses über einen längeren Zeitraum nicht verbraucht hat, da es grundsätzlich der Dispositionsfreiheit des Geschädigten obliegt, wie er mit den zum Ausgleich immaterieller Schäden gezahlten Beträgen umgeht (BSG, Urteil vom 15.04.2008, a.a.O., Rz. 19).
Ist jedoch das Schmerzensgeld im Zeitpunkt seines Zuflusses als Einkommen unmittelbar durch § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II geschützt und setzt sich dieser Schutz im Rahmen der Prüfung der Verwertbarkeit des aus diesem Zufluss folgenden Vermögens fort, so sind auch die aus dem Schmerzensgeld gewonnenen Früchte in diesen Schutz mit einzubeziehen (VG Münster, Urteil vom 07.03.2006, a.a.O.). Das Schmerzensgeld kann grundsätzlich nicht losgelöst von den hieraus gezogenen Zinsen gesehen werden. Dem steht nicht entgegen, dass grundsätzlich auch Zinseinkünfte aus Schonvermögen im Sinne des § 12 Abs. 3 SGB II zu berücksichtigende Einnahmen im Sinne des § 11 SGB II sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30.09.2008, a.a.O.). Vielmehr besteht zwischen dem erworbenen Kapital und den hieraus gezogenen Zinsen ein untrennbarer Zusammenhang, welcher den Schutz dieser Einnahmen rechtfertigt. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass eine Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB grundsätzlich sowohl als Festbetrag als auch als laufende Rentenleistung gezahlt werden kann. Dabei ist ungeachtet der Auszahlungsvariante unter Ausübung eines entsprechenden Schätzungsermessens die Entschädigung der Höhe nach so zu bestimmen, dass diese ihre Funktion als „billiger“ Schadensausgleich erfüllen kann (BGH, Urteil 15.05.2007, Az.: VI ZR 150/06, Rz. 9, www.juris.de). Erfolgt die Auszahlung einer Entschädigung als Rente, so ist der monatliche Zahlbetrag ausgehend von einem festen Kapitalbetrag unter Berücksichtigung einer angemessenen Verzinsung dieses Betrages auf der Grundlage der voraussichtlichen Lebenserwartung des Geschädigten sowie entsprechender Kapitalisierungstabellen zu errechnen. Auf diese Weise wird die fehlende Möglichkeit des Geschädigten, den Entschädigungsbetrag gewinnbringend anzulegen, ausgeglichen. Dadurch wird zugleich eine Benachteiligung gegenüber denjenigen Geschädigten vermieden, die wegen der Auszahlung des Festbetrages gerade die Möglichkeit zur Anlage haben (BGH, Urteil vom 15.05.2007, a.a.O., Rz. 15).
Nicht unberücksichtigt bleiben kann in diesem Zusammenhang auch, dass ein Geschädigter bei Gewährung einer entsprechenden Rentenzahlung, anders als bei Zahlung des Festbetrages, grundsätzlich die Möglichkeit hat, eine Anpassung der Rentenhöhe durch Erhebung einer Abänderungsklage nach § 323 Zivilprozessordnung (ZPO) zu erreichen. Diese ist zwar an strenge Voraussetzungen gebunden, jedoch auch bei einer Änderung der Lebenshaltungskosten nicht von vornherein ausgeschlossen (BGH, Urteil vom 15.05.2007, a.a.O., Rz. 11). Demgegenüber trägt das Risiko geänderter Verhältnisse im Falle der Zahlung eines Festbetrages der Geschädigte, der zum Ausgleich auf die Möglichkeit der gewinnbringenden Anlage angewiesen ist (VG Karlsruhe, Urteil vom 17.01.2006, Az.: 5 K 4146/04, www.beck-online.de). Der Bedeutung der Zinsen im Rahmen der Bestimmung der angemessenen Entschädigungsleistung würde jedoch nicht in hinreichendem Umfang Rechnung getragen, wenn diese als Bestandteil einer monatlichen Rentenzahlung bereits nach § 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB II unberücksichtigt blieben, demgegenüber aber bei selbständiger Auszahlung nach Gewährung eines Festbetrages als Einkommen anzurechnen wären. (…)
Sozialgericht Aachen, Urteil vom 03.02.2009, Az: S 23 AS 2/08 (nicht rechtskräftig)
Nachinstanz: Landessozialgericht NRW, L 7 AS 33/09