Nach einem Tötungsverbrechen an einer 81jährigen Frau gingen die Ermittlungsbehörden davon aus, dass das Opfer den Täter kannte und ihn in ihr Haus gelassen hatte. Ferner deutete das Verbrechen auf einen psychisch abnormen Täter hin. Die ermittelnde Kriminalpolizei hatten einen Verdächtigen im Visier, den Sohn des örtlichen Pastors. Opfer und der Verdächtige kannten sich auch, aber der entscheidende Hinweis fehlte noch. Die Polizei eröffnete daraufhin im Internet ein Diskussionsforum zum Mordfall mit folgendem Hinweis:
„Diese Veröffentlichung soll einerseits ein Podium bieten, auf dem die Bürger ihre Meinung zu dem Verbrechen äußern können. Anderseits sollen auch auf diesem Wege mögliche Zeugen oder andere Personen angesprochen werden, die in dieser Sache Hinweise geben können.“
Jeder, der auf die Internetseite zugriff, konnte die von anderen Teilnehmern eingestellten Beiträge lesen. So sollte den Besuchern der Seite die erwünschte Möglichkeit eröffnet werden, miteinander über die eingestellten Beiträge zu diskutieren. Nachdem auch eine Zeitung auf das Forum hingewiesen hatte, stellten verschiedene Personen unter Phantasienamen Beiträge ein, in denen Gerüchte über die mögliche Täterschaft des Pastorensohns diskutiert wurden.
Der Leiter der Mordkommission schloss das Internetforum, weil zum einen das kriminalistische Ziel, verwertbare Hinweise zu erlangen auf diesem Wege nicht erreicht wurde, und es zum anderen bedauerlicherweise zu denunzierenden Beiträgen gekommen sei. Ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen den Pastorensohn wurde von der Staatsanwaltschaft Hildesheim mangels Tatverdacht eingestellt. Aufgrund seiner Psyche und der Bekanntheit mit dem Opfer hielt man seine Täterschaft zwar für möglich, Beweise dafür hatte man aber nicht.
Einige Zeit später gestand der wahre Täter den Mord sowie ein weiteres Tötungsdelikt. Dieses Geständnis erwies sich als richtig. Der Täter wurde rechtskräftig verurteilt.
Der Pastorensohn sah sich durch die Ermittlungen schuldhaft und rechtswidrig in hohem Maße in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt. Die Eröffnung der Internetplattform, eines „virtuellen Prangers“, sei rechtswidrig gewesen und kein zulässiges prozessuales Mittel zur Strafverfolgung. Der Polizei sei es auch nur darum gegangen, Material gegen ihn als einzig Verdächtigen zu sammeln. Man habe die Ermittlungen nur auf ihn konzentriert und sei anderen Hinweisen nicht nachgegangen. Er verklagte daher das Land auf Zahlung eines Schmerzengeldes von mindestens 20.000 €. Das beklagte Land beantragte, die Klage abzuweisen. Die Einrichtung des Internetforums sei eine rechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahme.
Das Landgericht sah in der ersten Instanz zwar eine Persönlichkeitsrechtsverletzung als gegeben an, sprach dem Pastorensohn dafür aber nur 2.000 € zu. Im Übrigen hat es die Ermittlungen einschließlich der Einrichtung und Unterhaltung des Internetforums für zulässig gehalten. Gegen das Urteil des Landgerichts legten beide Parteien Berufung ein. Das Oberlandesgericht Celle sprach dem klagenden Pastorensohn ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 € zu.
Aus den Gründen:
Das beklagte Land haftet dem Kläger wegen der rechtswidrigen Verletzung seiner Amtspflichten im Ermittlungsverfahren auf Zahlung einer angemessenen Geldentschädigung zum Ausgleich des immateriellen Schadens nach §§ 839, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 34 GG.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass strafrechtliche Ermittlungen – hier wegen eines Kapitalverbrechens – überwiegend mit Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht des Verdächtigten verbunden sind, solche Ermittlungen wegen des strafrechtlichen Verfolgungszwangs (Legalitätsprinzip) aber rechtmäßig sind und auch nicht dadurch unrechtmäßig werden, dass sie sich am Ende als ungerechtfertigt erweisen (…).
Allerdings obliegt den Strafverfolgungsbehörden gegenüber dem Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren die Amtspflicht, das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten verletzende Ermittlungsmaßnahmen zu unterlassen, wenn diese erkennbar überzogen sind. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit, demzufolge eine Ermittlungsmaßnahme unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein muss.
Unverhältnismäßig ist eine Maßnahme, wenn ein milderes Mittel ausreicht. Der mit der Ermittlungsmaßnahme verbundene Eingriff darf nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Einl. 20 mit Nachweisen).
Vor diesem Hintergrund stellen sich die Ermittlungen gegen den Kläger grundsätzlich als rechtmäßig dar, mag sein Ansehen dadurch auch Schaden genommen haben. (…) Der Anfangsverdacht war begründet. Er beruhte darauf, dass der Kläger und das Opfer sich kannten und die Tat auf ein Persönlichkeitsprofil des Täters hindeutete, das nach Ansicht der Ermittler mit dem des Klägers Übereinstimmungen aufwies. (…)
Durch die Einrichtung und Aufrechterhaltung des Internetforums haben die Strafverfolgungsbehörden allerdings eine schwerwiegende und nicht zu rechtfertigende Persönlichkeitsrechtsverletzung des Klägers begangen.
Bei dieser Einrichtung handelt es sich – wegen der konkreten Ausgestaltung – nicht um eine zulässige Strafverfolgungsmaßnahme, weil sie erkennbar zur Erreichung des verfolgten und erlaubten Zwecks – Aufklärung der Tat – nicht erforderlich war, sie zu einer weiteren Verächtlichmachung des Klägers führte, die ohne Einbußen bei der Aufklärbarkeit der Tat vermeidbar gewesen wäre. Sie verstößt daher gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns.
Zulässig ist es allerdings, dass Strafverfolgungsbehörden als Mittel zur Aufklärung von schweren Straftaten öffentliche Medien – wie etwa Fernsehen, Hörfunk, Printmedien und Internet – nutzen. Ein Aufruf zur Mithilfe durch Erteilung sachdienlicher Hinweise zur Aufklärung eines Verbrechens über diese Medien ist im Grundsatz nicht zu beanstanden.
Es ist aber in der Regel geboten, dass Mitteilungen von Hinweisgebern nur die Strafverfolgungsbehörden erreichen und nicht in der Weise öffentlich gemacht werden, dass sie von jedermann weltweit über das Internet abgerufen werden können. Diese Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass auch unzutreffende und unsachliche Hinweise gegeben werden und diese Hinweise unabhängig von ihrer Richtigkeit zu einer öffentlichen Verdächtigung von Personen führen können. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung im Kern zutreffend bemerkt hat, kommt dies einer Auslage der Ermittlungsakte im Gasthof gleich.
Ein Recht zur uneingeschränkten Preisgabe von Ermittlungsergebnissen besteht nicht. Dies schließt das Recht der Ermittlungsbehörden nicht aus, einzelne Ermittlungsergebnisse nach Prüfung auf Plausibilität und Wahrheitsgehalt zur Aufklärung eines Verbrechens bekannt zu machen.
Vor diesem Hintergrund verstößt der Aufruf schon gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Hinweise als Diskussionsbeitrag für andere Internetnutzer zur Verfügung zu stellen. Der Kläger weist zutreffend darauf hin, dass es ausgereicht hätte, wenn neben der genannten Postanschrift und dem Telefonanschluss etwa noch die E-Mail-Adresse der zuständigen Behörden mitgeteilt worden wäre.
Darüber hinaus war es zur Aufklärung der Tat auch nicht geboten, ein öffentliches Diskussionsforum zum Meinungsaustausch über die Straftat zu eröffnen. Die strafrechtliche Bewertung eines ermittelten Sachverhaltes ist ausschließlich Sache der Strafverfolgungsorgane und der Gerichte. Die öffentliche Meinung – noch dazu über eine unaufgeklärte Straftat – ist in diesem Zusammenhang nicht hilfreich und trägt zur Aufklärung nichts bei. (…)
Die in das Internet eingestellten und jedem Nutzer zugänglichen Diskussionsbeiträge verletzten den Kläger in seinem Persönlichkeitsrecht. Die in der Öffentlichkeit bestehenden Gerüchte um seine Täterschaft wurden durch das öffentliche Diskussionsforum weiter genährt und verbreitet, obwohl der Kläger lediglich als Täter in Betracht kam, weil das Opfer ihn kannte und man ihm die Tat aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur zutraute. Genau dieser Vermutung, der Kläger sei im Stande, ein derart grausames Verbrechen zu begehen, wurde durch die Aufforderung zum öffentlichen Meinungsaustausch weiterer Nährboden gegeben.
Durch die amtspflichtwidrige Eröffnung des Diskussionsforums haben die Strafverfolgungsbehörden das angeschlagene Ansehen des Klägers in der Öffentlichkeit über das Internet einer unbeschränkten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Diskussion um seine mögliche Täterschaft mindestens aufrechterhalten, ohne dass dies für eine sachgerechte Ermittlungsarbeit erforderlich gewesen wäre. Der Senat stimmt dem Kläger darin zu, man habe ihn an einen „virtuellen Pranger“ gestellt.
Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 19.06.2007, Az: 16 U 2/07