Unser Mandant fuhr mit seinem Mercedes eine Hauptstraße entlang. Es regnete leicht, auf der Straße verliefen Straßenbahngleise, rechts standen in dichter Reihe geparkte Autos. Aus einer Nebenstraße schaute von rechts plötzlich ein Golf zwischen den geparkten Autos heraus, es knallte. Unser Mandant behauptete, er habe wegen Gegenverkehrs nicht auswichen können und aufgrund der nassen Fahrbahn sei er in den Golf hineingerutscht. Die Unfallgegnerin behauptete, unser Mandant hätte vor der Kollision den Fuß von der Bremse genommen und sei mit voller Absicht gegen ihr Auto gefahren. Dies bestätigte auch ihr Ehemann und Beifahrer gegenüber der hinzu gerufenen Polizei.
Unser Mandant, der deutschen Sprache sehr begrenzt mächtig, wurde bei der Unfallaufnahme schnell als „Unfallverursacher“ ausgemacht. Ein Gastwirt einer gegenüber der Unfallstelle befindlichen Bar, der sich als Unfallzeuge zur Verfügung stellen wollte, wurde gar nicht erst befragt und im Protokoll nicht erwähnt. Gegen unseren Mandanten erging ein Bußgeldbescheid, der auch rechtskräftig wurde. Also blendende Voraussetzungen für eine Unfallregulierung, die von der KfZ-Haftpflichtversicherung der Unfallgegnerin dann auch recht schleppend betrieben wurde, so dass wir Klage vor dem Landgericht Berlin erhoben.
Das Landgericht ging nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Unfallgegnerin eine Vorfahrtsverletzung anzulasten sei, allerdings sich unser Mandant auch nicht wie ein „Idealfahrer“ verhalten habe. Er hätte den Unfall vermeiden können und müssen. Dass Gegenverkehr herrschte, konnte nicht bewiesen werden, da sich der von uns als Zeuge benannte Gastwirt letztendlich als sog. „Knallzeuge“ entpuppte und hierzu unpräzise Angaben machte. Die Behauptung der Unfallgegnerin, unser Mandant sei zuletzt ungebremst in ihr Fahrzeug gefahren, konnte der gerichtlich beauftragte Sachverständige allerdings auch nicht bestätigen. Das Mitverschulden unseres Mandanten sowie die Betriebsgefahr des gefahrenen Mercedes bewertete das Landgericht insgesamt anspruchsmindernd mit 25%. Unser Mandant erhält seinen Schaden damit zum überwiegenden Teil ersetzt.
Aus den Gründen:
(…) Der Verkehrsunfall stellt sich für keine Seite als durch ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3, § § 18 Abs. 3 StVG n.F. verursacht dar, sodass weder eine Kürzung der Ansprüche des Klägers mangels Mitverantwortung noch ein Ausschluss der Ersatzpflicht der Beklagten zu 1 mangels Mitverschulden bzw. Mitverursachung – und damit auch ein Ausschluss der Eintrittspflicht der Beklagten zu 2 – in Betracht kommen.
Das liegt bei der Beklagten zu 1 – wie sogleich zu erörtern sein wird – auf der Hand, aber auch der Kläger hat sich nicht wie der vom Gesetz gedachte „Idealfahrer“ verhalten, der den Ufall bei jeder denkbaren Sorgfalt hier wohl ohne größere Schwierigkeiten hätte vermeiden können.
Die gemäß § 17 Abs. 2 StVG gebotene Abwägung der Verursachung- und Verschuldensanteile der beiden Fahrzeugführer führt unter Berücksichtigung der von beiden am Verkehrsunfall beteiligten Kraftfahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr zu dem Ergebnis, dass die Beklagten den unfallbedingten Schaden des Klägers nur nach einer Quote von 3/4 zu ersetzen haben.
Dem Verstoß der Beklagten zu 1 gegen die Sorgfaltspflichten eines Wartepflichtigen und der dadurch erheblich erhöhten Betriebsgefahr des Pkw VW Golf III steht die durch ein mitwirkendes Verschulden des Klägers wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO nur leicht erhöhte Betriebsgefahr des Pkw Mercedes Benz S 5GD im Verhältnis 3 zu 1 gegenüber.
Im Rahmen der Abwägung sind zulasten der einen Partei neben bereits feststehenden, d. h. unstreitigen oder zugestandenen Tatsachen nur – und zwar mit dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 BGB – bewiesene unfallursächliche Umstände zu berücksichtigen. Umstände, auf die sich die andere Partei beruft, die aber nicht unfallursächlich oder nicht erwiesen sind, die sich also nicht nachweislich auf die Entstehung des Schadens oder seinen Umfang ausgewirkt haben, müssen unberücksichtigt bleiben. Dies gilt insbesondere auch für eine durch bestimmte Umstände ggf. erhöhte Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs.
Allerdings sind auch die Regeln des Anscheinsbeweises anzuwenden, die sich auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislest auswirken können, insbesondere, wenn – wie hier – in bestimmten Verkehrssituationen dem einzelnen Verkehrsteilnehmer besondere Sorgfaltspflichten auferlegt sind.
Nach dem äußeren Bild des Verkehrsunfalls hat die Beklagte zu 1 ihre Wartepflicht verletzt. Sie fuhr unter Verletzung ihrer sich aus § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Abs. 2 StVO i.V.m. dem Zeichen 205 zu § 41 StVO („Vorfahrt gewähren!“) ergebenden Wartepflicht aus der …Straße auf die im Unfallbereich mit dem Zeichen 206 zu § 42 StVO („Vorfahrstraße“) ausgeschilderten …straße ein, in diesem Zusammenhang kam es zur Kollision mit dem vom Kläger geführten Fahrzeug. Die Beklagten heben selbst vorgetragen, dass die Beklagte zu 1 jedenfalls bis zur Sichtlinie der am rechten Fahrbahnrand geparkten Fahrzeuge vorgefahren, d.h. in den engeren Kreuzungsbereich eingefahren war.
Kommt es aber – wie hier – im engen Kreuzungs- oder Einmündungsbereich zu einem Zusammenstoß zwischen den Fahrzeugen eines vorfahrtsberechtigten und eines wartepflichtigen Verkehrsteilnehmers, hat der Wartepflichtige den Anscheinsbeweis gegen sich. Dabei ist anerkannt, dass sich der Anscheinsbeweis sowohl auf eine objektive als auch auf eine schuldhafte Vorfahrtsverletzung erstreckt, weil sich dieser Schluss nach der Erfahrung des Lebens ohne weiteres aufdrängt.
Ob die Beklagten zu 1 sich tatsächlich im Sinne von § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO in die Kreuzung hineingetastet hat, ist für die Frage der Feststellung einer Wartepflichtverletzung kraft ersten Anscheins unerheblich. Vielmehr führt es lediglich zur Mithaftung des Vorfahrtberechtigten, wenn dieser unter Verstoß gegen § 1 Abs, 2 StVO bei vorschriftsmäßigem Hineintasten des Wartepflichtigen in die Kreuzung nicht den Abstand einhält, den der Wartepflichtige benötigt, um bis zum Erlangen freier Sicht in die Kreuzung einzufahren. (…)
Zwar haben die Beklagten nicht nachweisen können, dass der Kläger zunächst bremste, dann jedoch den Fuß von der Bremse nahm und – vorsätzlich – den Zusammenstoß herbeiführte, den er bei weiterem Bremsen sicher hätte verhindern können. Das vom gericht eingeholte Sachverständigengutachten hat hierfür zureichende Anhaltspunkte nicht ergeben, was auch die Beklagten einräumen. Allerdings teht auf Grundlage des Sachverständigengutachtens, der Aussage (der Zeugen) zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger ausreichend Zeit und Gelegenheit für ein Ausweichmanöver gehabt haben muss. Dies begründet eine Mithaftung des Klägers wegen Verstoßes zumindest gegen § 1 Abs. 2 StVO. (…)
LG Berlin, Urteil vom 31.08.2009, Az: 58 O 343/07 (Volltext)
Praxisrelevanz:
Nach einem Verkehrsunfall stellt sich regelmäßig die Frage, wer wem welchen Schaden zu ersetzen hat. Grundsätzlich hat jeder für einen Schaden in dem Umfang einzustehen, für den er selbst haftungsrechtlich verantwortlich zu machen ist. Diese Verantwortlichkeit bemisst sich zunächst nach dem Grad des Verschuldens, wie z.B. hier einer Vorfahrtmissachtung. Sofern die Unfallbeteiligten jeweils eine Mitschuld trifft, so z.B. hier das fehlende Ausweichmanöver trotz einmal unterstellter Möglichkeit dazu, wird die Haftung entsprechend verteilt und eine Haftungsquote gebildet. Jeder der Geschädigten bekommt seinen Schadens dann vom anderen gekürzt um den eigenen Verschuldensanteil ersetzt.
Eine Mithaftung kann sich unabhängig davon bereits aus der sog. Betriebsgefahr ergeben. Wird ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr benutzt, dann geht von ihm allein auf Grund des Betreibens eine sog. abstrakte Gefahr für alle anderen Verkehrsteilnehmer aus. Diese Haftung trifft nach § 7 StVG den Halter eines Fahrzeuges, Die Betriebsgefahr begründet eine Haftung für einen eingetretenen Schaden, ohne das es auf ein Verschulden des Fahrers ankommt. Der Fahrer selbst haftet nach § 18 Abs. 1 StVG nur für Verschulden.
Eine Haftung kann jeder Unfallbeteiligte nur dadurch vermeiden, indem er nachweist, dass der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeuges jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Abgestellt wird auf den sog. „Idealfahrer“, also einem Fahrer der immer vorausschauend fährt und alles richtig macht.
Ist der Unfallhergang streitig und stehen keine geeigneten Zeugen oder andere objektive Beweismittel zur Verfügung stehen und kann keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden angelastet werden, ist der Unfallhergang nicht geklärt. Es erfolgt dann bei gleichartigen Fahrzeugen mit gleicher Betriebsgefahr eine Schadensteilung. Im Ergebnis hat also jeder Unfallbeteiligte Anspruch auf Erstattung der Hälfte des ihm entstandenen Schadens
Kommt bei dem einen oder dem anderen Unfallbeteiligten noch ein anteiliges Verschulden hinzu, kann sich die Haftung entsprechend verschieben. Bei weit überwiegendem Verschulden des jeweils anderen Unfallbeteiligten, kann die Haftung aus der Betriebsgefahr auch völlig zurücktreten.
Die Ausführungen des ansonsten durchaus humorigen Richters im Urteil zur der als Nebenforderung u.a. geltend gemachten Aktenversendungspauschale und der nach seiner Meinung hierauf nicht entfallenden Umsatzsteuer sehen wir ihm nach. Da er die Unfallakte beigezogen hatte, wird er auch gesehen haben, dass wir für die Anforderung seinerzeit die übliche Pauschale von 12,00 Euro an die Justizkasse gezahlt haben. Der Anfall der außergerichtlichen Kosten wurde von der Gegenseite auch zu keinem Zeitpunkt dem Grund oder der Höhe nach in Frage gestellt. Und das mit der Umsatzsteuer erklären wir ihm beim nächsten Mal genauer oder er liest auf unserer Internetseite oder aber beim BGH (IV ZR 232/08) nach.