Ein Autofahrer fuhr auf der Berliner Stadtautobahn nach Meinung zweier Polizeibeamter zu schnell. Durch eine Wanderbaustelle sei die sonst erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h auf 60 km/h beschränkt gewesen sein, der Autofahrer soll 93 km/h gefahren sein. Der verteidigte sich vor Gericht mit der Behauptung, es habe weder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h noch eine Wanderbaustelle gegeben.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten sagte einer der beiden Beamten aus, sich an den konkreten Fall nicht mehr erinnern zu können, er übernehme jedoch die volle Verantwortung für den von ihm gefertigten Formularanhang zur Geschwindigkeitsanzeige, in dem er unter anderem die Bemerkung „Wanderbaustelle“ aufgenommen habe. Die zweite Beamtin erinnerte sich, dass zur Tatzeit um 23.32 Uhr „wohl“ eine Wanderbaustelle existiert habe und während dieser Zeit die Geschwindigkeitsportale auf 60 km/h eingestellt gewesen seien. Sie habe die Anzeige zur Ordnungswidrigkeit gemeinsam mit ihrem Kollegen gefertigt und könne bestätigen, dass dieser nur solche Tatsachen aufnehme, die tatsächlich auch festgestellt worden seien. Dem gegenüber bekundete die Beifahrerin des Autofahrers, dass es nach ihren Beobachtungen weder eine Fahrstreifensperrung noch eine Wanderbaustelle noch eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h gegeben habe. Die Fahrstrecke liege auf dem Weg zu ihren Eltern und sie befahre diesen des Öfteren.
Der Autofahrer beantragte, bei der Verkehrslenkungszentrale weitere Nachforschungen zum Vorhandensein der Wanderbaustelle und einer entsprechenden Beschilderung durchzuführen. Das Gericht ging allerdings davon aus, dass die Beifahrerin die Umstände, die sie sonst üblicherweise auf der Autobahn vorfinde, nämlich eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h, hier ebenfalls als gegeben vorausgesetzt und daher auf Abweichungen von dem „ihr bekannten Verlauf“ nicht geachtet habe. Bei dieser Beweislage sei es zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich, bei der Verkehrslenkungszentrale weitere Nachforschungen zu tätigen. Das Gericht folgte den Bekundungen der zwei Polizeibeamten und verurteilte den Autofahrer zu einer Geldbuße von 150 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot.
Auf die Rechtsbeschwerde des Autofahrers hob das Kammergericht mit Beschluss vom 21.05.2007, Az: 2 Ss 80/07 – 3 Ws (B) 202/07 318 OWi 1152/06 das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten im Rechtsfolgenausspruch auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Tiergarten zurück.
Aus den Gründen:
Zutreffend weisen die Rechtsbeschwerde und die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zu dem Rechtsmittel darauf hin, dass es bei dieser Beweislage zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war, eine Auskunft bei der Verkehrslenkung Berlin zu der strittigen Frage einzuholen. Die Pflicht, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen (§ 77 Abs. 1 OWiG), gebietet die weitere Aufklärung, wenn das in Betracht kommende Wissen den Bekundungen eines Belastungszeugen gegenüber steht und eine Nennung des Beweismittels das Ziel hat, dessen Aussage zu widerlegen (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 180; KG, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 – 3 Ws (B) 272/91 – und 14. Februar 1997 – 3 Ws (B) 16/97 -). Dies gilt auch für die Fälle, in denen nicht nur ein Zeuge den Betroffenen belastet, sondern – wie vorliegend – zwei durch gemeinsame Dienstausübung verbundene Polizeibeamte (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Köln VRS 88, 376, 378). Zwar handelt es sich insoweit um keinen ausnahmslos geltenden Grundsatz; vielmehr ist im Einzelfall das bereits gewonnene Beweisergebnis unter Berücksichtigung der Verlässlichkeit der Beweismittel und die beantragte Beweiserhebung gegeneinander abzuwägen (vgl. KG, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 – 3 Ws (B) 272/91 – und vom 14. Februar 1997 – 3 Ws (B) 16/07 -), wobei auch hier entscheidend ist, ob die Beweisaufnahme sich aufdrängte oder zumindest nahe lag. Hier lag die Auskunft der beantragten Auskunft jedenfalls nahe.
In diesem Zusammenhang fällt es ins Gewicht, dass der Zeuge M. an den konkreten Vorfall keine Erinnerung mehr hatte und sich hinsichtlich der Wanderbaustelle lediglich auf die entsprechende Bemerkung in dem von ihm gefertigten Formularanhang bezog und die Zeugin O. bekundet hat, sie könne sich daran erinnern, dass damals „wohl“ gerade eine Wanderbaustelle existiert habe und während dieser Zeit die Geschwindigkeit auf 60 km/h beschränkt gewesen sei. Es kommt hinzu, dass – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zu dem Rechtsmittel zutreffend hinweist – an anderen Baustellen auf der Stadtautobahn in der Regel nicht durchgehend zur Nachtzeit gearbeitet wird und wegen der Bauarbeiten angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzungen oft nur für die Zeit der tatsächlichen Arbeiten bestehen. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Polizeibeamten, die ersichtlich häufig auf dem hier betroffenen Autobahnabschnitt dienstlich tätig waren, aus ihrem Wissen um die Wanderbaustelle und die dadurch bedingte Geschwindigkeitsbegrenzung irrtümlich auf das Bestehen dieser Regelung auch zur Tatzeit lediglich geschlossen haben, obwohl die Beschränkung – wie von dem Betroffenen und seiner Lebensgefährtin behauptet – zu dieser Zeit aufgehoben war. Die Einholung der behördlichen Erklärung wäre auch ohne erhebliche zeitliche Verzögerung, gegebenenfalls durch eine fernmündliche Anfrage während der Hauptverhandlung, möglich gewesen. Die Aufklärung hätte auch nicht in einem Missverhältnis zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Vorwurf gestanden, weil sie nicht nur für die Höhe des Bußgeldes, sondern auch für die Verhängung des Fahrverbots von Bedeutung war. Der Senat hebt nach alledem das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch auf und verweist die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurück.
Kammergericht, Beschluss vom 21.05.2007, Az: 2 Ss 80/07 – 3 Ws (B) 202/07 318 OWi 1152/06, (abgedruckt in NStZ-RR 2007, 319)