OLG Saarbrücken – Kinder müssen nur in besonderen Gefahrensituationen an die Hand genommen werden


(c) Thomas Weiss / Pixelio

T.Weiss/Pixelio

Eine Mutter ging mit ihrer zum Unfallzeitpunkt zweijährigen Tochter auf dem Bürgersteig entlang, als das Kind plötzlich vom Bürgersteig auf die Fahrbahn lief. Die Mutter rannte hinterher, um ihr Kind aufzuhalten und achtete nicht auf den Verkehr. Beide wurden angefahren und schwer verletzt. Der Unfallfahrer hatte Alkohol und Cannabis konsumiert. Die Mutter klagte für sich und ihr Kind u.a. auf Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld. Das erstinstanzlich befasste Landgericht Saarbrücken rechnete der klagenden Mutter ein Mitverschulden von 50% an (LG Saarbrücken, Urt. v. 29.04.2005 – 3 O 316/03). Die dagegen eingelegte Berufung hatte beim Oberlandesgericht Saarbrücken Erfolg.

Ein Mitverschulden der Mutter gem. § 254 BGB ist nach der Entscheidung des Gerichts nicht gegeben. Weder die Tatsache, dass die Mutter ihr Kind nicht an der Hand gehalten und nicht verhindert hat, dass das Kind auf die Fahrbahn gelangte, noch die Tatsache, dass die Mutter ohne jede Vorsicht hinter ihrem Kind auf die Straße gerannt ist, begründet ein Mitverschulden.

Ein Kind im Alter von knapp 2 Jahren befindet sich in einer Entwicklungsphase, in der es darauf angewiesen ist, die eigenen neu gelernten Fähigkeiten fortwährend neu zu trainieren. Für das Kind wäre es deshalb unzumutbar gewesen, wenn sie sich nur an der Hand der Mutter hätte bewegen dürfen und ihre Fortbewegungsfreiheit auf diesen engen Aktionsradius eingeschränkt gewesen wäre. Die notwendige Entwicklung eines Kindes wäre damit deutlich beeinträchtigt. Darüber hinaus ist es auch rein tatsächlich ausgeschlossen, ein Kind im entsprechenden Alter ständig ausschließlich an der Hand gehen zu lassen. Kinder in diesem Alter beharren auf ihrer Eigenständigkeit und Selbstständigkeit und bestehen auf ihrem gerade erst gelernten unabhängigen freien Laufen. Ein Kind würde sich dem Zwang ununterbrochener „Gefangenschaft“ an der Hand mit allen ihm möglichen Mitteln zu entziehen versuchen. Die Mutter musste ihr Kind deshalb nur in besonderen Gefahrensituationen an die Hand nehmen, etwa beim Überqueren einer Straße, an Ausfahrten, bei denen die herausfahrenden Fahrzeuge den Bürgersteig überqueren müssen, oder wenn aufgrund besonderer Umstände damit gerechnet werden musste, dass das Kind auf die Straße rennen würde, etwa wenn ein Bekannter des Kindes auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig erscheint. Keine dieser Situationen war im vorliegenden Fall gegeben. Die Tatsache, dass eine Mutter ihrem Kind nachläuft, welches ohne zu Schauen auf eine befahrene Straße rennt, um das Leben des Kindes zu retten, ist eine reflexartige Reaktion, die nicht willensgesteuert und deshalb nicht geeignet ist, einen Mitverschuldensvorwurf zu begründen.

Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 18.07.2006, AktZ.: 4 U 239/05-132

, , , ,