Das Amtsgericht Frankfurt am Main verhängte gegen die Betroffene wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes eine Geldbuße von 135 € sowie ein Fahrverbot. Im Verkehrszentralregister eingetragene Vorbelastungen hat das Amtsgericht verwertet und den Regelsatz des Bußgeldes entsprechend erhöht. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, in der sie u.a. die Unverwertbarkeit der Voreintragungen rügte, blieb beim OLG Frankfurt am Main trotz entgegenstehender Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte ohne Erfolg. Gründe, die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen, sah das OLG Frankfurt am Main unverständlicherweise nicht.
Der zulässigen Rechtsbeschwerde der Betroffenen liegt die vom Oberlandesgericht Frankfurt noch nicht abschließend entschiedene Rechtsfrage zu Grunde, ob ein auf die Sachrüge zu beachtendes Verwertungsverbot hinsichtlich von Voreintragungen besteht, wenn der neue Verstoß zwar vor Ablauf der 2-jährigen Tilgungsfrist der Voreintragungen (§ 29 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6 StVG) begangen wird, die neue Verurteilung aber erst innerhalb der sich anschließenden einjährigen Überliegefrist (§ 29 Abs. 7 StVG) erfolgt. (…) Bei dieser Sachlage ist das Amtsgericht nicht gehindert die beiden Voreintragungen bußgelderhöhend zu berücksichtigen. Die Voreintragungen unterliegen keinem auf Sachrüge zu beachtenden Verwertungsverbot (so auch OLG Bamberg ZfSch 2007, 535; entgegen OLG Hamm Beschluss vom 3. Mai 2005, Az. 3 Ss OWi 228/05; NZV 2006, 487; NZV 2007, 156; OLG Schleswig-Holstein ZfSch 2006, 348 – nur im Ergebnis, ohne auf die Rechtsfrage eingehend; OLG Brandenburg DAR 2008, 218).
Nach § 29 Abs. 8 StVG können nur Voreintragungen vorgehalten werden, die noch nicht getilgt sind. Die Tilgungsfrist bei Ordnungswidrigkeiten beträgt gemäß § 29 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Nr. 3 StVG 2 Jahre ab Rechtskraft / Unanfechtbarkeit der Entscheidung. Sind mehrere Entscheidungen eingetragen, verlängert sich diese Frist nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG bis für alle Voreintragungen die Tilgungsfähigkeit vorliegt. Für den Fall, dass eine neue Tat vor Ablauf der Tilgungsfrist der Voreintragungen begangen wird, § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG aber deswegen (zunächst) nicht zur Anwendung kommen kann, weil die Entscheidung über die neue Tat erst nach Ablauf der Tilgungsfrist der Voreintragungen erfolgt, sieht § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG – als Ausnahme – für diese Zwischenphase vor, dass die Tilgungsfrist nach Abs. 1 zunächst gehemmt wird (Ablaufhemmung), allerdings unter der Maßgabe, dass die neue Tat innerhalb einer 1 jährigen Überliegefrist (§ 29 Abs.7 StVG) zu einer weiteren Eintragung führt. Kommt es innerhalb der 1 jährigen Überliegefrist zu einer erneuten Eintragung, liegen wieder die Voraussetzungen des § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG vor und die Tilgungsfrist verlängert sich für alle Entscheidungen um 2 Jahre.
Sinn und Zweck der Einführung der am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen (BTDrucks 15/1508 S. 15) erweiterten Ablaufhemmung von Voreintragungen während der gerichtlichen Entscheidungsphase war die gesetzgeberische Intention, dass von einer Bewährung im Sinne der Verkehrssicherheit bereits dann nicht mehr gesprochen werden kann, wenn eine neue Tat vor Eintritt der Tilgungsreife einer Voreintragung begangen wird. Daher soll eine Ablaufhemmung nicht nur dann eintreten, wenn eine weitere Entscheidung eintragen ist, sondern auch dann, wenn eine weitere Verkehrszuwiderhandlung begangen wurde, die zu einer Eintragung führt (Tatzeitprinzip so ausdrücklich BTDrucks 15/1508 S. 36). Durch die Einführung der maximal 1 jährigen Ablaufhemmung für die Tilgung von Voreintragungen während der gerichtlichen Entscheidungsphase (§ 29 Abs. 6 Satz 2 StVG) soll der anwaltlichen Praxis entgegen gewirkt werden, nur deshalb Rechtsmittel einzulegen, um das Verfahren herauszuzögern, mit dem Ziel, durch den Ablauf der Tilgungsfrist die Tilgung bereits in das Verkehrszentralregister (VZR) eingetragener Verstöße zu erreichen (so BTDrucks 15/1508 S.15 Zif. 4). Diese an der Verkehrssicherheit ausgerichtete Intention der konsequenten Ahndung von Mehrfachtätern (vgl. auch BTDrucks 15/1508 S. 36 zu § 29 Abs. 6 Satz 1 und 2) hat der Gesetzgeber versucht, durch das in § 29 Abs. 6 StVG wenig geglückt formulierte Regel / Ausnahmeprinzip dadurch zu erreichen, indem er vom Wortlaut her die Voraussetzungen für die Ablaufhemmung während der gerichtlichen Entscheidungsphase an zwei Voraussetzungen knüpft.
Die neue Tat muß vor Ablauf der Tilgungsfrist der Voreintragung begangen worden sein (konditionales Element) und die Entscheidung über diese Tat muß innerhalb der Überliegefrist zu einer Eintragung führen (temporales Element). Da der Tatrichter zum Zeitpunkt seiner Entscheidung niemals wissen kann, wann seine Entscheidung rechtskräftig wird, ergibt sich aus der temporalen Formulierung der zweiten Voraussetzung, dass er nur prüfen kann und muß, ob seine Entscheidung innerhalb der Überliegefrist ergeht. Wird sie rechtskräftig, „führt“ sie zu einer Eintragung, da mit Rechtkraft der Entscheidung die dafür maßgebliche Eintragungsfähigkeit eintritt (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Wird sie angegriffen, muß nach dem Wortlaut der Vorschrift auch die Rechtsmittelentscheidung zwingend innerhalb der Überliegefrist liegen, damit die Voreintragungen zu Recht verwertet werden durften. Aus der temporalen Offenheit der Vorschrift ergeben sich auch keine rechtlichen Unklarheiten (Gebot der Rechtsklarheit). Entscheidet das Tatgericht innerhalb der 1- jährige Hemmungsfrist (Überliegefrist), das Rechtsmittelgericht hingegen erst nach deren Ablauf, ist die Tilgungshemmung abgelaufen und nach § 29 Abs. 8 i.V.m. Abs. 1 StVG vor Rechtskraft der neuen Entscheidung Tilgungsfähigkeit der Voreintragungen eingetreten. Die Verwertbarkeit der Voreintragung wäre damit letztlich zu Unrecht angenommen worden. Dem Rechtsbeschwerdegericht stehen dann die Möglichkeiten nach § 79 Abs. 6 OWiG zur Verfügung.
Die von den Oberlandesgerichten Hamm (Beschluß vom 3. Mai 2005, Az. 3 Ss OWi 228/05; NZV 2006, 487; NZV 2007, 156); Schleswig-Holstein (ZfSch 2006, 348 – nur im Ergebnis, ohne auf die Rechtsfrage eingehend) und Brandenburg (DAR 2008, 218) vertretene Rechtsauffassung, dass mit Ablauf der 2 jährigen Tilgungsfrist des § 29 Abs. 1 Nr. 1 StVG Voreintragungen – zwar nicht getilgt sind, aber vor Eintragung der neuen Entscheidung nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, überzeugt nicht. Die genannten Obergerichte gehen davon aus, dass die Überliegefrist lediglich verhindern soll, dass eine Entscheidung aus dem Register gelöscht wird, obwohl eine weitere Entscheidung während der Überliegefrist ergangen, dem Verkehrszentralregister aber noch nicht übermittel worden ist (so OLG Hamm, NZV 2006, 487 Rdn. 10). Dies würde sich auch daraus ergeben, dass bei Annahme einer Hemmung der Tilgungsreife während der Überliegefrist der jeweilige Tatrichter antizipieren müsste, ob die von ihm abgeurteilte Tat rechtskräftig wird und zu einer Eintragung führt (so OLG Brandenburg, DAR 2008, 218 Rdn. 10 f).
Die von den Oberlandesgerichten Hamm und Brandenburg vertretene Rechtsansicht mag zwar auf Grund der wenig geglückten Formulierung des Gesetzes auch noch mit Wortlaut des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG vereinbar sein, wenn man der zweiten Voraussetzung statt einer temporalen eine rein konditionale Bedeutung bemisst. Sie negiert aber die gesetzgeberische Motivation, da sie gerade bei Mehrfachtätern zu ungerechtfertigten begünstigenden Wertungswidersprüchen führt und reduziert darüber hinaus den Regelungsinhalt in § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG auf den der Formalvorschrift des § 29 Abs. 7 StVG. Da nach dieser Ansicht die Überliegefrist bei dem Neuverstoß keine materiell rechtliche Hemmungswirkung entfaltet weil die zweite Voraussetzung bei der tatrichterlichen Entscheidung noch nicht vorliegen kann, muß wie bisher nicht nur der neue Verstoß sondern auch die Entscheidung innerhalb derer die Voreintragungen Berücksichtigung finden darf, innerhalb der 2-jährigen Tilgungsfrist erfolgen. Damit bleibt es entgegen der Absicht des Gesetzgebers bei der bisherigen Strategie, ein anhängiges OWi-Verfahren, notfalls durch Einlegung von Rechtsmitteln und Verzögerungen während des Verfahrens, bis zur Tilgungsreife hinauszuzögern, um so einer Verwertbarkeit von Voreintragungen zu entgehen (vgl. Pinkerneil DAR 2005, 57f). Für den Fall, dass ein vorbelasteter Betroffener einen neuen Verstoß innerhalb der 2 jährigen Regeltilgungsfrist der Voreintragung begeht und dafür sorgt, dass das Amtsgericht erst innerhalb der Überliegefrist entscheidet, wäre nach der Ansicht der Oberlandesgerichte Hamm und Brandenburg die Voreintragung zwar nicht getilgt, gleichwohl nicht verwertbar, weil die Ablaufhemmung lediglich verhindern soll, dass eine Voreintragung vor Klärung, ob die Voraussetzungen des § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG vorliegen, aus dem Register gelöscht wird. Dies wird aber bereits durch § 29 Abs. 7 StVG geregelt, so dass es den § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG, der gerade die materiell rechtliche Verwertung regeln soll, nicht bedurft hätte. Damit wäre es dem Betroffen im Gegensatz zu einem Bürger, der den Eintritt der Rechtskraft / Unanfechtbarkeit nicht verzögert, ermöglicht, sich einer Verurteilung als Wiederholungstäter zu entziehen. Genau dies wollte der Gesetzgeber durch seine Änderung verhindern (vgl. BTDrucks 15/1508 S. 36 zu § 29 Abs. 6 Satz 1 und 2).
Daran ändert sich auch nichts, dass auch nach Ansicht der Oberlandesgerichte Hamm und Brandenburg mit Eintritt der Rechtskraft der neuen Verurteilung innerhalb der Überliegefrist die Tilgungsfrist aller Verurteilungen neu zu Laufen beginnt (§ 29 Abs. 6 Satz 1 StVG). Gelänge es dem Betroffenen nämlich bei einem erneuten Verstoß erneut die Verurteilung über die 2-jährigen Tilgungsfrist hinaus zu verzögern käme wieder nur eine Verurteilung wegen des Regelfalls in Betracht, obwohl der Betroffene mittlerweile 2 Voreintragungen wegen Verstößen gegen die Verkehrssicherheit vorzuweisen hat.
Der erkennende Senat hat im vorliegenden Fall trotz entgegenstehender Rechtsprechung anderer Obergerichte davon abgesehen, dem Bundesgerichtshof die Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen (§ 121 Abs. 2 GVG), da auch bei grundsätzlicher Bedeutung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Vorlegungsvoraussetzungen regelmäßig nur dann gegeben sind, wenn die vorgelegte Rechtsfrage gerade auch für das anhängige Verfahren rechtlich bedeutsam sein kann (vgl. BGHSt 33, 310 Rdn. 11f; BGHSt 30, 55, 58/59 m. w. Nachw.). Das wird in der Regel zu verneinen sein, wenn es auf diese Frage nicht mehr ankommen kann, weil die Voraussetzungen, die zu ihrer Vorlegung geführt haben, im Zeitpunkt der Entscheidung durch den Bundesgerichtshof prozessual überholt sind, was im vorliegenden Verfahren bereits mit Ende der Überliegefrist am 8. Februar 2009 der Fall sein wird. Soweit der Bundesgerichtshof zur Vorlagepflicht nach § 42 Abs. 1 IRG entschieden hat, das von diesem Grundsatz in eng umgrenzten Ausnahmefällen abgewichen werden kann, wenn z.B. damit zu rechnen ist, dass sich die Vorlegungsfrage jederzeit wieder stellen kann, jedoch auch in den künftigen Fällen eine rechtzeitige Entscheidung durch den Bundesgerichtshof – z. B. wegen des Ablaufs gesetzlich festgelegter Fristen – voraussichtlich nicht möglich sein wird (BGHSt 33, 310 Rdn. 12 m.w.Nachweis ebenfalls nur zum § 42 IRG), ist zu berücksichtigen, dass § 42 Abs. 1 IRG einen viel weiteren Anwendungsbereich für Vorlagen eröffnet als § 121 Abs. 2 GVG. So kann nach § 42 Abs. 1 IRG ein Oberlandesgericht dem Bundesgerichtshof eine Entscheidung antragen, wenn es die Klärung von Rechtfragen (zum IRG) von grundsätzlicher Bedeutung für geboten hält. Dies ermöglicht § 121 Abs. 2 GVG nicht. Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, dass selbst wenn der Bundesgerichtshof ausnahmsweise trotzt prozessualer Überholung die Vorlage für zulässig erachten und im Sinne des erkennenden Senats entscheiden würde, aufgrund der zwischenzeitlich abgelaufenen Frist des § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG gleichwohl eine entgegen gesetzte Entscheidung ergehen müsste, so dass hier eine Vorlage nicht möglich ist. (…)
OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22.01.2009, Az: 2 Ss OWi 352/08
Vorinstanz: AG Frankfurt am Main, Urteil vom 21.04.2008, Az: 357 Js-OWi 5117/08