BVerfG – Gesundheit geht vor Hauptverhandlung / Verfassungsbeschwerde gegen Sitzungshaftbefehl erfolgreich


In einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht hatte bereits ein Hauptverhandlungstermin stattgefunden, ein weiterer Termin war erforderlich. Der Verteidiger beantragte nach Terminsbestimmung durch das Gericht die Verlegung, da die Angeklagte an diesem Tag an einer von ihrer Krankenkasse genehmigten Kur teilnehme. Der Antrag wurde vom Amtsgericht abgelehnt, die hiergegen eingelegte Beschwerde wurde vom Landgericht verworfen. Die Angeklagte nahm an der Kur teil, hatte aber die Absicht, an dem Hauptverhandlungstermin teilzunehmen und die Kur hierfür zu unterbrechen.

Am Morgen des Hauptverhandlungstages musste sie der Geschäftsstelle des Amtsgerichts allerdings telefonisch mitteilen, sie sei „eingeschneit“ und könne daher in der Hauptverhandlung nicht erscheinen. Daraufhin erließ das Amtsgericht in der Hauptverhandlung einen Haftbefehl („Sitzungshaftbefehl“ gem. § 230 Abs. 2 StPO; dieser setzt nur voraus, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt). Telefonische Nachfragen des Gerichts hätten ergeben, dass eine Zu- und Abfahrt von der Klinik möglich sei. Die Angeklagte habe in Kenntnis des Termins ihre Kur angetreten und nicht das Erforderliche, etwa eine Rückreise am Vortag, unternommen, um ihr Erscheinen im Termin sicherzustellen, lautete die Begründung. Die Angeklagte wurde zeitnah verhaftet, in der zehn Tage später anberaumten Hauptverhandlung wurde die aus der Haft vorgeführte Angeklagte freigesprochen und der Haftbefehl aufgehoben. Rechtsmittel gegen den Haftbefehl wurden vom Oberlandesgericht verworfen, da die Angeklagte der Hauptverhandlung unentschuldigt ferngeblieben sei.

Ihre hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob den Beschluss des Oberlandesgerichts auf, da er die Beschwerdeführerin in ihrem Freiheitsgrundrecht verletze. Das Oberlandesgericht habe die Verhältnismäßigkeit des Haftbefehls nur unzureichend geprüft. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Ein Eingriff in die persönliche Freiheit kann nur hingenommen werden, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann. Dieser Grundsatz gilt auch für den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Die Bestimmung dient der Sicherung der Weiterführung und Beendigung eines begonnenen Strafverfahrens. Eine Maßnahme nach § 230 Abs. 2 StPO setzt nicht etwa dringenden Tatverdacht und Flucht- oder Verdunklungsgefahr voraus, sondern nur die Feststellung, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Als Mittel, die Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen Verhandlungstermin sicherzustellen, sieht § 230 Abs. 2 StPO in erster Linie die Anordnung der Vorführung vor. Erst in zweiter Linie kann der stärker in die persönliche Freiheit eingreifende Haftbefehl in Frage kommen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck in angemessenem Verhältnis zueinander stehen müssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte zu dem Termin erscheinen wird.

Das Oberlandesgericht hat die Erwartung, dass die Beschwerdeführerin zu künftigen Hauptverhandlungsterminen nicht erscheinen werde, zunächst damit begründet, dass sie trotz des in jener Woche anstehenden Hauptverhandlungstermins ihre Kur angetreten habe. Dabei übersieht das Oberlandesgericht, dass die Beschwerdeführerin nicht verpflichtet war, wegen der anstehenden Hauptverhandlung gänzlich von dieser Kur Abstand zu nehmen, zumal bei Nichtteilnahme eine Gebühr zu entrichten war. Die Vermutung, dass sie von vornherein beabsichtigt habe, der Verhandlung fernzubleiben, ist nicht belegt; dagegen spricht eine vom Verteidiger vorgelegte Bescheinigung der Gemeinde über schneebedingte Verkehrsbehinderungen.

Außerdem hat das Oberlandesgericht wesentliche Gesichtspunkte nicht gewürdigt, welche die Bereitschaft der Beschwerdeführerin, an weiteren Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, nahe legten. So hat sich das Oberlandesgericht nicht mit der Anwesenheit der Beschwerdeführerin in der früheren Hauptverhandlung auseinandergesetzt. Anlass zur Erörterung hätte hier umso mehr bestanden, als sich die Beweislage in jener Hauptverhandlung offenbar zu Gunsten der Beschwerdeführerin verändert hatte und sie im neuerlichen Termin mit einem Freispruch rechnen konnte. Darüber hinaus hat sich das Oberlandesgericht auch nicht damit auseinandergesetzt, dass das Amtsgericht um eine – ersichtlich unverhältnismäßige – Vollstreckung des Haftbefehls ersucht hatte, obwohl die Weihnachtstage bevorstanden und die Durchführung einer Hauptverhandlung nicht absehbar war. Das Oberlandesgericht hätte ferner die Möglichkeit eines Vorführbefehls (hier wird der Beschuldigte erst am Tag der Hauptverhandlung in Polizeigewahrsam genommen und dem Gericht vorgeführt) als milderes Mittel näher in Betracht ziehen müssen. Schließlich bedurfte auch die Dauer der Inhaftierung näherer Prüfung. Warum es hier erforderlich gewesen sein soll, die Beschwerdeführerin noch vor dem Wochenende zu verhaften und die Haft auf zehn Tage zu erstrecken, ist nicht dargelegt und erschließt sich auch nicht aus sonstigen Umständen.

BVerfG, Beschluss vom 27.10.2006, AktZ.: 2 BvR 473/06

Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 114/2006 vom 29.11.2006

siehe zu diesem Thema auch die Entscheidung des Kammergericht vom 01.03.2007, AktZ.: 4 Ws 26/07

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