Nach einem Verkehrsunfall an einer Autobahnauffahrt verlangte die Klägerin Schadensersatz und Schmerzensgeld. Sie war kurz nach dem Auffahren sogleich auf die Überholspur gewechselt, auf der von hinten der Beklagte mit etwa 160 km/h angefahren kam. Die Klägerin war der Meinung, sie treffe kein Verschulden, vielmehr habe der Unfallgegner die Richtgeschwindigkeit überschritten und hafte deswegen voll. Das Landgericht Erfurt wies ihre Klage ab, die Berufung wurde vom OLG Jena durch Beschluss zurückgewiesen.
Grundsätzlich hat der Verkehr auf der Autobahn Vorrang vor Fahrzeugen, die sich vom Beschleunigungsstreifen einordnen. Da bereits das Einfädeln von einer Autobahnauffahrt gesteigerte Sorgfaltspflichten begründet, gilt dies erst recht, wenn nach dem Auffahren gleich auf die Überholspur gewechselt wird. Der Fahrer auf der Überholspur darf darauf vertrauen, dass der Einfädelnde seine Vorfahrt beachtet. Auch die gefahrene im vorliegenden Fall führte nicht zu einer Haftung des Beklagten, da die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs hinter dem Verschulden der Klägerin vollständig zurücktrat.
Aus den Gründen:
Der auf eine Autobahn von der Einfädelspur Einfahrende haftet in der Regel voll (z.B. Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 22, Rn. 212). Dieser Satz gilt erst recht, wenn er unmittelbar nach dem Einfahren auf die Überholspur der Autobahn wechselt. (…) Keinen Ausgleich seines Schadens erhält, wessen Verursachungsanteil und/oder Schuld so stark überwiegt, dass der Verursachungsanteil des anderen Beteiligten dem gegenüber zurücktritt.
Der Fahrstreifenwechsel von der Einfädelspur auf die Überholspur einer Autobahn unter Missachtung der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 7 Abs. 5 StVO erfüllt dieses Kriterium (Hentschel – König – Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 17 StVO, Rn 16). Ein Fahrstreifenwechsel darf nämlich nur erfolgen, wenn eine Gefährdung anderer dort fahrender Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist ( OLG Jena, NZV 2006, 147, 148; OLG Naumburg, Urteil vom 06.06.2008 zu Az. 10 U 72/07, zitiert nach Juris). Hier lag zudem nicht nur ein Fahrstreifenwechsel vor, sondern die besonders gefahrträchtige Situation, dass die Klägerin in einem sehr kurzen zeitlichen Abstand zwei Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat und so von der Einfädelspur einer Autobahnauffahrt auf die Überholspur der Autobahn gewechselt ist. Dass nur ein kurzer zeitlicher Abstand zwischen den beiden Fahrspurwechsel gelegen hat, ergibt sich daraus, dass sich der Unfall schon nach dem eigenen Vortrag der Klägerin etwa in Höhe der Mitte der Länge der Einfädelspur ereignete. Dies bestätigt die polizeiliche Dokumentation eindrücklich. Selbst unter Zugrundelegen des klägerischen Vertrags, dass sie einen vor ihr fahrenden Kleintransporter überholt habe, bevor es zur Kollision gekommen sei, ändert sich an der Wertung des überwiegenden Verschuldens der Klägerin nichts. Angesichts der dann zwingend kurzen Überholstrecke müsste dieses der Klägerin voraus fahrende Fahrzeug so langsam gewesen sein, dass sich ein Auffahren auf die Autobahn nur unter allergrößter Vorsicht und unter vollen Ausnutzen der Länge der Einfädelspur angeboten hätte.
Es ist zudem davon auszugehen, dass die Klägerin auf der kurzen Wegstrecke mit dem von ihr gefahrenen Pkw Smart, der laut Gutachten nur eine Leistung von 33 KW hatte, keine Geschwindigkeit erzielen konnte, die sie in die Lage versetzt hätte, für den sichtbar von hinten nahenden Pkw des Beklagten zu 1. keine Gefahr darzustellen. Die Klägerin müsste davon ausgehen, dass der auf der Autobahn von hinten nahende Beklagte zu 1. auf die Beachtung seiner Vorfahrt gegenüber den Einfahrenden vertraute (so auch KG Berlin, Urteil vom 14.06.2007 zu Az. 12 U 98/06, zitiert nach Juris). Sie müsste zudem damit rechnen, dass der Beklagte auf der Überholspur seine hohe Geschwindigkeit beibehielt. Sie hätte deshalb allenfalls dann auf den Überholstreifen der Autobahn auffahren dürfen, wenn sie ihr Fahrzeug derart hätte beschleunigen können, dass das mit gleichbleibender Geschwindigkeit fahrende Fahrzeug des Beklagten nicht gefährdet worden wäre (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 15.09.2006 zu Az. 10 U 16/06 ). Dass sie anders gehandelt hat, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei als zumindest grobe Fehleinschätzung der Verkehrssituation und der Möglichkeiten ihres Fahrzeugs an- und hierin ihr Verschulden gesehen.
Der Beklagte zu 1) müsste hingegen nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug kurz nach dem Auffahren auf die Autobahn auf die Überholspur wechseln würde, zumal er gerade auf den Überholstreifen gewechselt hatte, um diesen Fahrzeugen ein Einfahren von der Einfädelspur auf den rechten Fahrstreifen zu ermöglichen. Allein die gefahrene Geschwindigkeit von 160-170 km/h auf der wenig befahrenen und gut einsehbaren Autobahn führt im vorliegenden Fall nicht zu einer Haftung des Beklagten, da die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter das Verschulden der Klägerin zurücktritt.
Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet für sich nämlich keinen Schuldvorwurf ( BGH, 17.03.1992, IV ZR 63/91, zitiert nach Juris). Sie führt jedenfalls im hier in Rede stehenden Geschwindigkeitsbereich auch nicht zur Mithaftung infolge der grundsätzlich gegebenen Vermeidbarkeit des Unfalls – früher Betriebsgefahr – gemäß § 17 StVG (vgl. OLG Hamm, DAR 2002, 313 und OLG München, DAR 2007, 465). Eine höhere Geschwindigkeit hat die Klägerin weder substantiiert behauptet noch unter Beweis gestellt. Ihr Vortrag, die gefahrene Geschwindigkeit sei eine Mitschuld begründend überhöht und unangemessen gewesen, geht bereits aufgrund der kurzen räumlichen Distanz von der möglichen Stelle des Spurwechsels zur Kollisionsstelle ins Leere. Auch dies hat das Landgericht ohne Beweisaufnahme zutreffend feststellen können und festgestellt. Wiederum ist darauf abzustellen, dass die Kollision sowohl nach dem Klägervortrag als auch der polizeilichen Dokumentation etwa in Höhe der Mitte der Länge der Einfädelspur stattgefunden hat. Insoweit musste der Beklagte nur mit einem Auffahren der Klägerin und der ihr voraus fahrenden Fahrzeuge auf die rechte Richtungsfahrbahn der Autobahn rechnen. Dem hat er durch den Spurwechsel nach links Rechnung getragen. Mit der durchaus diskussionswürdigen Unvermeidbarkeit des Unfalles für einen „Idealkraftfahrer“ musste sich das Landgericht nicht auseinandersetzen, da es die Haftung für die Betriebsgefahr zutreffend hat hinter das Verschulden der Klägerin zurücktreten lassen.
Die rechtliche Frage, ob hier aufgrund des engen räumlichen und somit zu unterstellend engen zeitlichen Zusammenhangs von Einfahren und Spurwechsel ein Vorfahrtsverstoß im Sinne von § 8 StVO vorliegt, der jede Haftung des Beklagten zu 1. schon nach dem Anscheinsbeweis ausschlösse, kann deshalb dahinstehen. (…)
OLG Jena, Beschluss vom 17.06.2009, Az: 5 U 797/08
LG Erfurt, Urteil vom 20.08.2008, Az: 3 O 608/08