Unser Mandant suchte uns auf, nachdem die Polizei beim ihn zu Hause aufgetaucht war, ihm einen Beschluss des AG Tiergarten übergeben, nach dem ihm seine Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden war und seinen Führerschein auch gleich mitgenommen hatte. Unser Mandant sei nach dem Beschluss dringend verdächtig, sich nach einem Verkehrsunfall unerlaubt vom Unfallort entfernt zu haben, was bekanntermaßen strafbar ist gemäß § 142 StGB.
Aus den Bildern der Ermittlungsakte ergab sich am Pkw ein beträchtliches Schadensbild, der vordere Kotflügel war leicht eingedrückt und die Stoßstange komplett herausgerissen. Am Ford Transit hingegen war nur leichter Lackabrieb und ein kleiner Kratzer in Bereich des hinteren Stoßfängers feststellbar. Die Fahrerin des Pkw gab an, der Schaden betrage 3.000,00 bis 4.000,00 Euro, was den Ermittlungen und auch dem nachfolgenden Beschluss ungeprüft zu Grunde gelegt wurde. Ein Sachverständigengutachten zur Schadenhöhe befand sich nicht in der Akte.
Gegenüber der Polizei, die unseren Mandanten nach dem Unfall aufsuchte, gab er an, keinen Unfall bemerkt zu haben. Auch sein Beifahrer, unabhängig befragt, meinte nichts bemerkt zu haben. Da das natürlich jeder behauptet, der mit dem Vorwurf der Verkehrsunfallflucht konfrontiert wird, qualifizierte das Gericht die Einlassung unseres Mandanten als bloße Schutzbehauptung und entzog auf Grund des bedeutenden Schadens schon mal vorläufig die Fahrerlaubnis. Was man hat, hat man.
In der Akte befand sich bereits ein Strafbefehlsentwurf, wonach unser Mandant eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 Euro zahlen sollte, die Fahrerlaubnis sollte entzogen werden und vor Ablauf von 7 Monaten Sperrzeit unserem Mandanten keine neue erteilt werden. Unter dieser Maßgabe wäre es eigentlich eine gute Entscheidung gewesen, den Strafbefehl abzuwarten, Einspruch dagegen einzulegen und schnell eine Hauptverhandlung beim AG Tiergarten durchzuführen mit dem Ziel die Frage nach der Bemerkbarkeit durch einen Sachverständigen zu klären. Wenn man den Unfall weder visuell, noch akustisch oder taktil wahrnehmen konnte, scheidet ein vorsätzliches Entfernen vom Unfallort aus. Man weiß ja dann nicht, dass es einen Unfall gegeben hat.
Unser Mandant entschied sich gegen unseren Rat und wünschte die Einlegung einer Beschwerde gegen den Beschluss des AG Tiergarten zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis. Erwartungsgemäß und nach Schema 08/15 half das Landgericht Berlin dieser Beschwerde nicht ab. Dass sich das Verfahren dadurch unnötig verzögern würde und sich mit der Bestätigung durch das Beschwerdegericht natürlich im Kopf der zuständigen Amtsrichterin der Vorwurf „manifestiert“ hatte, darauf hatten wir mehrfach hingewiesen, aber letztendlich entscheidet immer der Mandant.
Nachdem nun endlich der Strafbefehl zugestellt, dagegen Einspruch eingelegt und gleichzeitig Beweisanträge gestellt worden waren, fand der erste Hauptverhandlungstermin statt. Es wurden die Fahrerin des Pkw und der Beifahrer als Zeugen gehört, ein Sachverständiger war erst einmal nicht beauftragt, man wolle erst mal sehen. Unser Mandant schwieg auf unser Anraten. Warum sollte er auch Angaben machen, die ohnehin wieder als bloße Schutzbehauptung gewertet werden würden. Amtsanwältin und Amtsrichterin zeigten sich nach Vernehmung der Pkw-Fahrerin denn auch überzeugt, dass der Unfall bemerkbar war. Schließlich habe das Abreißen der Stoßstange des Pkw eine erhebliche Geräuschkulisse erzeugt, danach soll unser Mandant dann auch auffällig gefahren sein und während die Geschädigte hinter ihm herfuhr, häufig die Spur gewechselt haben, was man als „Fluchttendenz“ hätte auslegen können. Insbesondere die Amtsanwältin meinte aus ihrer langen Berufserfahrung schöpfen zu können wann ein Unfall bemerkbar ist und wann nicht. Man bot unserem Mandanten eine Geldstrafe bei Entziehung der Fahrerlaubnis und eine Sperrzeit von noch drei Monaten an. Seinen Antrag auf Wiedererteilung beim LABO Berlin könne er ja sofort stellen, dann hätte er in drei Monaten eine neue Fahrerlaubnis. Dieses „unmoralische Angebot schlug unser Mandant aus, er wollte es wissen. Also wurde auf unseren nochmals wiederholten Beweisantrag hin ein Sachverständiger beauftragt.
Im Fortsetzungstermin kam dieser zur Überraschung des Gerichts und der Amtsanwaltschaft zu dem Ergebnis, dass eine Wahrnehmbarkeit bei einer Kollision eines größeren Fahrzeugs mit einem Pkw im Fließverkehr auch bei einem erheblichen Schadensbild für den Fahrer des größeren Fahrzeuges nicht unbedingt gegeben sein müsse und berief sich auf eigene Unfalluntersuchungen und einen Beitrag aus der Zeitschrift Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik, Heft 11/2002, S. 301 ff., der eine ähnlich gelagerte Unfallkonstellation zum Gegenstand hatte. Natürlich war der Unfall für die Pkw-Fahrerin akustisch und taktil wahrnehmbar. Aufgrund der größeren Masse und der nur leichten Beschädigung am Fahrzeug unseres Mandanten, lasse sich das aber nicht ohne weiteres auf ihn übertragen.
Auf Grundlage dieser Einschätzung des Gutachters hätte man auch gut und gern auf einen Freispruch hinarbeiten können. Letztendlich wurde, da die Aussage der Geschädigten zum „Fahrverhalten“ noch im Raum stand und um das Verfahren endlich zu beenden, einer Einstellung wegen „geringer Schuld“ nach § 153 StPO zugestimmt, unser Mandant erhielt seinen Führerschein im Termin ausgehändigt und war trotz der Tatsache, dass er unsere Kosten nun selbst tragen muss, sehr glücklich.
Wenn das Ergebnis des Verfahrens zur Folge hat, dass die nette Amtsanwältin ihren reichen Erfahrungsschatz um die Tatsache erweitert hat, dass ein großer Knall nicht unbedingt für alle Beteiligten hör- und wahrnehmbar sein muss, und die ebenfalls sehr nette Amtsrichterin künftig bei der Absegnung von Beschlüssen zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ein wenig mehr Skepsis an den Tag legt, wären auch wir glücklich.