Bundesverfassungsgericht – Haftverschonung kann nur bei Eintreten neuer Umstände widerrufen werden


Wegen Fluchtgefahr erging gegen einen Beschuldigten im Juni 2006 einen Haftbefehl, der drei Monate später gegen Meldeauflagen und Abgabe sämtlicher Reisedokumente außer Vollzug gesetzt wurde. Im Mai 2007 verurteilte das Landgericht den Beschuldigten dann zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Der Verteidiger des Beschuldigten legte gegen dieses Urteil Revision ein, es trat demnach keine Rechtskraft ein. Das Landgericht hob im Urteil die Haftverschonungsentscheidung auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit der Begründung, dass durch die Verurteilung neue Umstände hervorgetreten seien, welche die erneute Verhaftung des Beschuldigten erforderlich machten. Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts durch Beschluss vom 15.08.2007, Az. 2 BvR 1485/07, auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletze. Der Umstand allein, dass nach der Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen sei, könne den Widerruf der Haftverschonungsentscheidung bei im Übrigen unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der gewährten Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der Haftbefehl erneut außer Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Untersuchungshaft entlassen werden.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 Strafprozessordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert haben. Neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Neu hervorgetretene Umstände können sich dagegen nicht auf den (dringenden) Tatverdacht beziehen. Dieser ist bereits Grundvoraussetzung für Erlass und Aufrechterhaltung jeden Haftbefehls (vgl. § 112 Abs. 1 StPO). Demgemäss ist ohne Bedeutung, dass sich der dem Haftbefehl oder der Anklage zugrunde gelegte dringende Tatverdacht aufgrund der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestätigt hat und damit noch „dringender“ geworden ist.

Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil kann im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen – auch höheren – Strafe zu rechnen und hat der Beschuldigte die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht gerecht. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht haben in die von ihnen vorzunehmende Abwägung alle relevanten Gesichtspunkte mit dem ihnen von Verfassungs wegen zukommenden Gewicht einbezogen, die nach Lage der Dinge hätten einbezogen werden müssen. Beide haben einseitig auf die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des Beschwerdeführers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht hat. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht haben berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer durch das strikte Befolgen der ihm erteilten Auflagen über einen längeren Zeitraum hinweg einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich schutzwürdig ist.

Untersuchungshaft ist keine antizipierte Strafhaft. Sie steht dieser weder in ihren Wirkungen noch in ihren Voraussetzungen gleich. Der Begünstigte einer Haftverschonungsentscheidung hat grundsätzlich Anspruch, die Rechtskraft des Urteils in Freiheit zu erwarten. Diese verfassungsrechtliche Vorgabe ist auch für die Fachgerichte bindend; sie kann nicht unter Berufung auf eine wie auch immer geartete „richterliche Überzeugung“ außer Kraft gesetzt werden.

BVerfG, Beschluss vom 15.08.2007, Az. 2 BvR 1485/07

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