Der unbekannte Sohn


Die Mandantin erfuhr die schreckliche Nachricht von der Polizei. Man hatte ihren Sohn aufgefunden, auf einem Feldweg in einer Berliner Kleingartenkolonie, verblutet an einer Stichwunde in der Leiste. Es gab Zeugen, eine Beschreibung der beiden Täter und eines Fahrzeuges. Recht schnell verlor einer der beiden die Nerven und begab sich mit seinem Verteidiger zur Polizei um eine Aussage zu machen. Auch der zweite Täter hielt dem Fahndungsdruck nicht stand und stellte sich freiwillig. Beide kamen in U-Haft. Die Mandantin suchte mich auf, als die Ermittlungen fast vor dem Abschluss standen und fragte, wie das Ganze jetzt weiter gehen wird und was sie tun kann.

Wir vereinbarten, dass ich zunächst Akteneinsicht nehmen werde und sie danach entscheiden könne, ob sie sich dem Verfahren als Nebenklägerin anschließt. Die nachfolgende Beratung hinterließ meine Mandantin zutiefst irritiert, da nach Aktenlage Mord nicht in Frage kam und sich auch der Nachweis eines Tötungsvorsatzes schwierig gestalten würde. Die Mandantin reagierte wie jede Mutter reagieren würde, die ihr Kind unter derartigen Umständen verloren hat. Sie meinte, dass könne doch nicht wahr sein, dass die damit „durchkommen“. Erst nachdem ich die Mandantin direkt nach ihren Erwartungen fragte und vorausschickte, dass eine Nebenklage nicht dazu geeignet sei, Genugtuung zu erfahren, wenn sie aber in jeder Lage des Verfahrens jemanden an ihrer Seite wissen möchte, der ihr erklärt was genau gerade passiert, ich das, aber eben auch nur das garantieren könne, fing sie an mir zu vertrauen und erzählte mir, dass sie im Nachhinein Dinge herausgefunden hatte, die ihr wohl sehr zusetzten.

Ihr Sohn führte anscheinend nicht nur ein Doppelleben, es waren gleich mehrere. Er hatte sich voneinander abgegrenzte Freundes- und Bekanntenkreise geschaffen, die nichts voneinander wussten. Da war der Freundeskreis  um ihn und seine Lebensgefährtin, junge Leute, die arbeiteten, gern auf Partys gingen und sicher auch mal ein wenig über die Stränge schlugen. Dann war da aber noch der „Freundeskreis“ mit denen er Geschäfte machte, Geschäfte mit Drogen und dann waren da noch die „Kumpels“ denen er auf Partys eben diese Drogen verkaufte. Damit finanzierte er sein Leben, ohne dass sein normales soziales Umfeld davon etwas mitbekam.

Irgendwann fing er an, mit den falschen „Freunden“ Geschäfte zu machen. Er bekam von einem der Täter auf Vermittlung des anderen für 500 Euro Gras auf Kommission, d.h. er brauchte es erst einmal nicht bezahlen und sollte später, nach Verkauf seine Schulden abbezahlen. Das tat er aber nicht. Er vertröstete den Vermittler ein aufs andere Mal, der sich wiederum bei dem Lieferanten in der Pflicht sah. Man verabredete sich also, dem Sohn meiner Mandantin eine „Abreibung“ zu verpassen, wobei sich ab da die Einlassungen der beiden Täter völlig widersprachen. Jeder schob alles dem anderen in die Schuhe, bis hin zu dem letztlich tödlichen Messerstich.

Der Lieferant besorgte ein Auto, der Vermittler rief den Sohn meiner Mandantin an und bestellte ihn zu einem Treffpunkt. Vom wem die Initiative ausging und wer bei dem anschließenden „Gespräch“ der Chef war, blieb unklar. Zugestanden wurde nur, dass das spätere Opfer ins Auto stieg und es während der Fahrt schon zu Handgreiflichkeiten und Drohungen gegen den Sohn meiner Mandantin kam, die Fahrt dann in der Kleingartenkolonie endete, wo einer der beiden Täter das Opfer aus dem Auto zerrte und dabei zustach. Anschließend versuchte einer der beiden noch erfolglos die Wunde abzubinden. Als ein Jogger sich näherte, flüchteten sie. Die Herkunft des Messers blieb ungeklärt, Fingerabdrücke auf der Waffe konnten beiden Täter zugeordnet werden. Beide behaupteten, der jeweils andere habe es ihm nach dem Stich in die Hand gedrückt. Die Polizei tat ihr Bestes, konnte aber anhand der Spurenlage nicht eindeutig ermitteln, wer zugestochen hatte. Die Staatsanwaltschaft Berlin erhob Anklage wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung mit Todesfolge.

Das anschließende Verfahren war für meine Mandantin schwer zu ertragen. Zum ersten Mal sah sie die beiden jungen Männer, von denen einer ihren Sohn erstochen haben musste. Sie trug alles mit Fassung, die Anklageverlesung, die anschließenden sich widersprechenden Einlassungen der Angeklagten über ihre Verteidiger, die Zeugenvernehmungen, die Sachverständigen. Wenn sie die Fassung verlor, dann nur außerhalb des Gerichtssaals.

Im Lauf der Beweisaufnahme zeichnete sich ab, dass auch die weiteren geladenen Zeugen kein Licht in das Dunkel bringen würden, dies konnten nur die Angeklagten selbst. Die bzw. ihre Verteidiger dachten allerdings nicht daran, was man als selbst praktizierender Strafverteidiger allerdings gut nachvollziehen konnte. Beide Angeklagten waren gut verteidigt und spekulierten mit ihren Einlassungen darauf, nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben und damit lediglich wegen Beihilfe verurteilt werden zu können. Der eine weil er behauptete, nur der Fahrer gewesen zu sein und das spätere Opfer gar nicht gekannt zu haben, der andere indem er behauptete, er habe nur den Lockanruf getätigt und gar nicht gewusst, was danach passieren würde und dass der andere ein Messer dabei hat, von dem er auch nicht wusste.

Wenigstens hatte die Beweisaufnahme ergeben, dass der Fahrer das Opfer wohl doch besser kannte als er zugab und der Beitrag des Vermittlers über einen bloßen Lockanruf doch weit hinausging, so dass das Gericht durchblicken ließ, keine Zweifel hinsichtlich der gemeinsamen Planung und Durchführung der „Abreibung“ sowie der gegenseitigen Kenntnis, dass ein Messer mitgeführt wurde zu haben. Damit fingen die Vorbereitungen einer sogenannten Absprache mit dem Ziel einer Verkürzung des Verfahrens an, wobei sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft bei der Strafe über die Zahl „vor dem Komma“ uneinig waren. Auch ich als Nebenklägervertreter durfte etwas dazu sagen und stellte klar, dass es meiner Mandantin nicht auf die Höhe des Strafmaßes ankomme, vielmehr um das Wissen, wer für den Tod ihres Sohnes verantwortlich sei. Dass das Gericht beide Täter in der Verantwortung sehe, sei zwar juristisch korrekt, für meine Mandantin allerdings im höchsten Maße unbefriedigend. Allerdings werde sie akzeptieren, dass es keine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis geben wird.

Die Absprache wurde ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt und protokolliert, das Gericht stellte bei einer geständigen Einlassung eine Strafobergrenze in Aussicht. Die Angeklagten gaben danach ein sehr pauschal gehaltenes Geständnis ab, wobei die Frage wer zugestochen hat bewusst ausgeklammert wurde, beide aber für den Tod des Sohnes meiner Mandantin die Verantwortung übernahmen. Das Urteil fiel für beide Täter gleich aus, vier Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung mit Todesfolge. An der Schuld der Angeklagten hatte das Gericht keine Zweifel, allerdings müsse  offen bleiben, wer von ihnen zugestochen habe. Daher seien beide gleich zu bestrafen. Als anschließend noch Haftverschonungsbeschlüsse für beide Angeklagten verkündet wurden, war es dann um die Fassung meiner Mandantin doch geschehen. Die Angeklagten durften gehen, während ihr Sohn nicht mehr nach Hause kommen wird.

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