EGMR – Große Kammer entscheidet im Fall Gäfgen gegen Deutschland


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte am 30.06.2008 mit sechs zu eins Stimmen entschieden , dass der Beschwerdeführer kein Opfer einer Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sein, und dass keine Verletzung von Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention vorlag. Aufgrund des Antrages des Beschwerdeführers, entschied nun die Große Kammer des EGMR, bestehend aus siebzehn Richtern, mit elf zu sechs Stimmen, dass eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren zwar nicht vorlag, allerdings entgegen der ersten Entscheidung, ein Verstoß gegen Artikel 3 gegeben sei. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens wird es danach nicht geben.

Der Beschwerdeführer wurde im Juli 2003 wegen der Entführung und Ermordung des elfjährigen Sohnes einer Bankiersfamilie aus Frankfurt am Main zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere seiner Schuld fest. Mit seiner nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens in Deutschland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegten Beschwerde, wandte der Beschwerdeführer ein, dass er während seiner Befragung durch die Polizei der Folter unterworfen wurde, ferner sein Recht auf ein faires Verfahren dadurch verletzt wurde, dass Beweismittel verwendet wurden, die infolge seines durch Zwang erlangten Geständnisses sichergestellt worden waren.

Aus der Pressemitteilung:

Artikel 3

Nach den Feststellungen der deutschen Strafgerichte war der Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten auf Anweisung des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei mit der Zufügung starker Schmerzen bedroht worden, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsortes von J. zu zwingen. Diese unmittelbare Drohung mit vorsätzlicher Misshandlung musste beim Beschwerdeführer Angst und seelisches Leiden in erheblichem Ausmaß ausgelöst haben. Der Gerichtshof nahm zudem zur Kenntnis, dass der Polizeivizepräsident nach Feststellung der deutschen Gerichte seine Untergebenen mehrfach angewiesen hatte, Zwang gegen den Beschwerdeführer anzuwenden, seine Anweisung war folglich nicht als Kurzschlusshandlung sondern als vorsätzlich geplant zu bewerten.

Der Gerichtshof erkannte an, dass die Polizeibeamten von dem Bemühen getrieben waren, das Leben eines Kindes zu retten. Er unterstrich aber, dass das absolute Verbot unmenschlicher Behandlung völlig unabhängig vom Verhalten des Opfers oder der Beweggründe der Behörden gilt und keine Ausnahmen zulässt, nicht einmal wenn ein Menschenleben in Gefahr ist. Der Gerichtshof befand, dass die unmittelbaren Drohungen gegen den Beschwerdeführer im vorliegenden Fall mit der Absicht, Informationen zu erpressen, schwerwiegend genug waren, um als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 zu gelten. Unter Berücksichtigung seiner eigenen Rechtsprechung und den Einschätzungen anderer internationaler Institutionen des Menschenrechtsschutzes gelangte der Gerichtshof allerdings zu der Auffassung, dass die Verhörmethode, der der Beschwerdeführer unterzogen worden war, nicht einen solchen Schweregrad erlangt hatte, dass sie als Folter gelten könnte.

Der Gerichtshof war überzeugt, dass die deutschen Gerichte, sowohl im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als auch in demjenigen gegen die Polizeibeamten, ausdrücklich und eindeutig anerkannt hatten, dass die Behandlung des Beschwerdeführers bei seinem Verhör gegen Artikel 3 verstoßen hatte.

Er stellte jedoch fest, dass die der Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt für schuldig befundenen Polizeibeamten nur zu sehr geringen Geldstrafen auf Bewährung verurteilt worden waren. Die deutschen Gerichte hatten eine Reihe von mildernden Umständen berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass die Beamten in der Absicht handelten, J.s Leben zu retten. Der Gerichtshof erkannte zwar an, dass der vorliegende Fall nicht vergleichbar war mit Beschwerden über brutale Willkürakte von Staatsbeamten. Dennoch erwog er, dass die Bestrafung der Polizeibeamten nicht den notwendigen Abschreckungseffekt hatte, um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen. Zudem gab die Tatsache, dass einer der Beamten später zum Leiter einer Dienststelle ernannt worden war, Anlass zu grundlegenden Zweifeln, ob die Behörden angemessen auf den Ernst der Lage angesichts einer Verletzung von Artikel 3 reagiert hatten.

Im Hinblick auf eine mögliche Entschädigung für die Verletzung der Konvention nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe zur Einleitung eines Amtshaftungsverfahrens mehr als drei Jahre anhängig und dass in der Sache noch nicht über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch entschieden worden war. Dies gab Anlass zu grundlegenden Zweifeln an der Effizienz des Amtshaftungsverfahrens.

Angesichts dieser Überlegungen war der Gerichtshof der Auffassung, dass die deutschen Behörden dem Beschwerdeführer keine ausreichende Abhilfe für seine konventionswidrige Behandlung gewährt hatten.

Der Gerichtshof kam daher, mit elf zu sechs Stimmen, zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer weiter beanspruchen kann, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 der Konvention zu sein und dass eine Verletzung von Artikel 3 vorlag.

Artikel 6

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt die Verwertung von Beweismitteln, die unter Verletzung von Artikel 3 erlangt worden waren, die Fairness eines Strafverfahrens ernsthaft in Frage. Der Gerichtshof hatte folglich darüber zu befinden, ob im vorliegenden Fall das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt unfair war, weil solche Beweismittel verwendet worden waren.

Der Gerichtshof stellte fest, dass der wirksame Schutz des Einzelnen vor Ermittlungsmethoden entgegen Artikel 3 es in der Regel erfordert, Beweismittel von einem Strafverfahren auszuschließen, die unter Verletzung dieses Artikels erlangt worden waren. Dieser Schutz und die Fairness des Verfahrens insgesamt stehen allerdings nur dann auf dem Spiel, wenn die unter Verletzung von Artikel 3 erlangten Beweismittel einen Einfluss auf die Verurteilung des Beschuldigten und auf das Strafmaß hatten.

Im vorliegenden Fall war aber vielmehr das neue Geständnis des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung – nach seiner Belehrung, dass alle seine früheren Aussagen nicht als Beweis gegen ihn verwendet werden dürften – die Grundlage seiner Verurteilung. Die angefochtenen Beweismittel waren folglich nicht erforderlich, um seine Schuld zu beweisen oder das Strafmaß festzulegen.

Im Hinblick auf die Frage, ob die Verletzung von Artikel 3 während der Ermittlungen einen Einfluss auf das Geständnis des Beschwerdeführers vor dem Strafgericht hatte, bemerkte der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung unterstrichen hatte, dass er sein Geständnis freiwillig, aus Reue und um Verantwortung für sein Verbrechen zu übernehmen, ablege und dies trotz der Drohungen der Polizei gegen ihn während der Ermittlungen. Der Gerichtshof hatte folglich keinen Grund anzunehmen, dass der Beschwerdeführer nicht gestanden hätte, hätte das Landgericht zu Beginn der Hauptverhandlung die angefochtenen Beweismittel ausgeschlossen.

Im Angesicht dieser Überlegungen befand der Gerichtshof, dass die Entscheidung der deutschen Gerichte, die strittigen, unter Androhung von unmenschlicher Behandlung erlangten Beweismittel nicht auszuschließen, unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles keinen Einfluss auf Urteil und Strafmaß hatte. Da die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers respektiert worden waren, musste das Verfahren im Ganzen als fair betrachtet werden.

Der Gerichtshof kam daher, mit elf zu sechs Stimmen, zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 6 vorlag.

Artikel 41 (gerechte Entschädigung)

Der Beschwerdeführer stellte keinen Anspruch auf Entschädigung für einen materiellen oder immateriellen Schaden, sondern hob hervor, dass es das Ziel seiner Beschwerde war, ein neues Strafverfahren vor den deutschen Gerichten zu erhalten.

Da der Gerichtshof keine Verletzung von Artikel 6 festgestellt hatte, schlussfolgerte er, dass der Beschwerdeführer keine Grundlage dafür hatte, ein neues Strafverfahren oder die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens zu beantragen.

Quelle: Pressemitteilung des EGMR Nr. 439 zum Urteil vom 01.06.2010 im Verfahren Gäfgen gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 22978/05)

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