EGMR – Entscheidung im Fall Gäfgen gegen Deutschland


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 30.06.2008 in öffentlicher Sitzung sein mit Spannung erwartetes Urteil im Fall Gäfgen gegen Deutschland (Beschwerdenummer 22978/05) verkündet. Der Gerichtshof urteilte mit sechs zu eins Stimmen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr behaupten konnte, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sein, und, dass keine Verletzung von Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention vorlag. Damit ist eine vom Beschwerdeführer erhoffte Wiederaufnahme seine Strafverfahrens ausgeschlossen.

Der Beschwerdeführer wurde im Juli 2003 wegen der Entführung und Ermordung des elfjährigen Sohnes einer Bankiersfamilie aus Frankfurt am Main zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere seiner Schuld fest; dies bedeutet, dass der Beschwerdeführer nicht erwarten kann, dass seine Restfreiheitsstrafe nach fünfzehn Jahren Haft zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Beschwerdeführer hatte das Kind nach dessen Entführung erstickt, anschließend forderte er von den Eltern des Kindes Lösegeld in Höhe von 1 Million und wurde nach der Lösegeldübergabe gefasst.

Gegenüber der Polizei erweckte der Beschwerdeführer den Eindruck, das Kind sei noch am Leben. Auf Anweisung des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei drohte ein Vernehmungsbeamter dem Beschwerdeführer die Zufügung erheblicher Schmerzen, wenn er weiterhin den Aufenthaltsort des Kindes verschwiege. Daraufhin gab der Beschwerdeführer an, wo er die Leiche des Kindes versteckt hatte. Infolge dieses Geständnisses stellte die Polizei nachfolgend weitere Beweise sicher, insbesondere Reifenspuren vom Auto des Beschwerdeführers am Weiher und die Leiche.

Der Beschwerdeführer wurde vom Landgericht Frankfurt am Main am 28. Juli 2003 des erpresserischen Menschenraubes und Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Es wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer trotz der Tatsache, dass er zu Beginn der Hauptverhandlung über sein Recht zu schweigen sowie darüber belehrt worden war, dass alle seine früheren Aussagen im Ermittlungsverfahren nicht als Beweis gegen ihn verwendet werden dürften, da sie unter Verletzung von § 136a der Strafprozessordnung und Artikel 3 der Menschenrechtskonvention durch Zwang erlangt worden waren, dennoch erneut gestanden hatte, das Kind entführt und getötet zu haben. Die Tatsachenfeststellungen des Gerichts über das Verbrechen beruhten im Wesentlichen auf diesem Geständnis. Sie wurden auch von anderen Beweismitteln untermauert: den infolge des ersten erpressten Geständnisses erlangten Beweise, nämlich dem Obduktionsbericht und der Reifenspuren, und anderen Beweismitteln, die infolge der Beschattung des Beschwerdeführers erlangt wurden, seitdem er das Lösegeld abgeholt hatte, das später in seiner Wohnung gefunden wurde oder auf seine Konten eingezahlt worden war.

Die vom Beschwerdeführer zum Bundesgerichtshof eingelegte Revision wurde dort kurz und knapp verworfen (2 StR 35/04). Seine anschließend eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an (2 BvR 1249/04). Die zwei Polizeibeamten, die an der Bedrohung des Beschwerdeführers beteiligt waren, wurden im Dezember 2004 wegen Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt verurteilt und verwarnt; die Verurteilung zu Geldstrafen wurde vorbehalten. Im Dezember 2005 beantragte der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe, um ein Amtshaftungsverfahren gegen das Land Hessen zur Erlangung von Schadensersatz wegen seiner durch die Ermittlungsmethoden der Polizei erlittenen Traumatisierung einzuleiten. Der Prozesskostenhilfeantrag wurde abgelehnt, eine dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde war erfolgreich (1 BvR 1807/07). Das Verfahren dauert noch an.

Am 15. Juni 2005 legte der Beschwerdeführer beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde ein, diese wurde am 10. April 2007 teilweise für zulässig erklärt. Der Beschwerdeführer beklagte sich, dass er während seiner Befragung durch die Polizei der Folter unterworfen wurde. Er trug weiterhin vor, dass sein Recht auf ein faires Verfahren dadurch verletzt wurde, dass in der Hauptverhandlung Beweismittel verwendet wurden, die infolge seines durch Zwang erlangten Geständnisses sichergestellt worden waren. Er berief sich auf Artikel 3 (Verbot der Folter) und Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer nach den Feststellungen der deutschen Strafgerichte von einem Polizeibeamten mit körperlicher Gewalt, die ihm erhebliche Schmerzen verursacht hätte, bedroht worden war, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsortes des Kindes zu zwingen. Der Beschwerdeführer war daher in ausreichend glaubwürdiger und unmittelbarer Weise mit vorsätzlicher Schmerzzufügung bedroht worden. Was die juristische Qualifikation der Misshandlung des Beschwerdeführers betrifft, unterstrich der Gerichtshof den absoluten Charakter des Verbots von Maßnahmen, die gegen Artikel 3 verstoßen, unabhängig vom Verhalten des Beschwerdeführers und selbst dann, wenn die Misshandlung dem Zweck dienen soll, Informationen zur Rettung von Menschenleben zu erlangen. Beim Beschwerdeführer muss seine Behandlung nicht unerhebliches seelisches Leiden hervorgerufen haben, was sich in der Tat darin zeigt, dass er, nachdem er sich bis zu diesem Zeitpunkt hartnäckig geweigert hatte, korrekte Angaben zum Aufenthaltsort des Kindes zu machen, auf seine Bedrohung hin gestanden hatte, wo er es versteckt hatte. Der Gerichtshof stellte deswegen fest, dass die Behandlung, mit der der Beschwerdeführer bedroht wurde, wäre sie umgesetzt worden, Folter gleichgekommen wäre. Angesichts der Tatsache, dass die Befragung nur zehn Minuten angedauert hatte und in einem Klima aufgeheizter Anspannung und Stimmung stattgefunden hatte, da die Polizeibeamten völlig erschöpft waren und unter extremem Druck standen, da sie glaubten, dass ihnen allenfalls wenige Stunden verblieben, um das Leben des Kindes zu retten, bewertete der Gerichtshof die Behandlung des Beschwerdeführers während seiner Befragung am 1. Oktober 2002 jedoch als unmenschlich und gegen Artikel 3 verstoßend.

Der Gerichtshof war überzeugt, dass die deutschen Gerichte ausdrücklich und unzweideutig anerkannt hatten, dass die Behandlung des Beschwerdeführers bei seiner Befragung gegen Artikel 3 verstoßen hatte. Das Landgericht Frankfurt am Main und das Bundesverfassungsgericht hatten festgestellt, dass die Drohung, dem Beschwerdeführer Schmerzen zuzufügen, um eine Aussage von ihm zu erpressen, nicht nur eine verbotene Vernehmungsmethode nach innerstaatlichem Recht dargestellt hatte, sondern auch gegen Artikel 3 der Konvention verstieß. Des Weiteren war dem Beschwerdeführer Genugtuung geleistet worden, da die beiden Polizeibeamte, die an der Bedrohung des Beschwerdeführers beteiligt waren, wegen Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt verurteilt und bestraft worden waren. Darüber hinaus war das Verbot der Verwertung aller unter Drohung erlangten Aussagen im Strafverfahren ein effektives Mittel, um Nachteile, die der Beschwerdeführer dadurch in seinem Strafverfahren erlitten hatte, auszugleichen und diente dazu, künftig von der Anwendung von Artikel 3 verletzenden Ermittlungsmethoden abzuhalten. Obwohl der Beschwerdeführer bislang im Amtshaftungsverfahren keinen Schadensersatz erhalten hatte, stellte der Gerichthof fest, dass im Fall des Beschwerdeführers, in dem die Verletzung von Artikel 3 in einer Drohung mit Misshandlung (im Gegensatz zu einer tatsächlich erfolgten körperlichen Misshandlung) lag, Genugtuung im Wesentlichen durch die effektive Strafverfolgung und Verurteilung der verantwortlichen Polizeibeamten gewährt wurde. Der Gerichtshof war deswegen überzeugt davon, dass die innerstaatlichen Gerichte dem Beschwerdeführer ausreichend Genugtuung geleistet hatten und schlossen, dass er nicht mehr behaupten konnte, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 zu sein.

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Verwertung von unter Zwang erlangten Beweismitteln zu einer starken Vermutung führte, dass das Verfahren des Beschwerdeführers als Ganzes unfair gewesen sein könnte, ebenso wie bei der Verwertung eines unter Zwang erlangten Geständnisses. Jedoch war nach Auffassung des Gerichtshofs das erneute Geständnis des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung die wesentliche Grundlage für das Urteil des Landgerichts, während alle anderen Beweismittel nur unterstützender Natur waren und lediglich dazu benutzt worden waren, die Glaubwürdigkeit dieses Geständnisses zu überprüfen. Der Beschwerdeführer behauptete, das erneute Geständnis nur abgelegt zu haben, weil die Beweismittel, die infolge des von ihm erpressten ersten Geständnisses erlangt worden waren (Reifenspuren, Leiche) im Verfahren verwertet worden wären und tatsächlich auch gegen ihn verwendet wurden.

Jedoch stellte der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer im Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten durchgehend bestätigt hatte, dass er sein Geständnis freiwillig aus Reue und um sich zu entschuldigen abgegeben habe. Jedenfalls war der Gerichtshof im Anbetracht der Tatsachen, dass das Landgericht die entscheidende Bedeutung des erneuten Geständnisses des Beschwerdeführers für seine Feststellungen betont hatte und dass der Beschwerdeführer im Verfahren von einem Strafverteidiger vertreten war, nicht überzeugt, dass er nicht hätte schweigen können und ihm keine andere Verteidigungsmöglichkeit mehr verblieb als in der Hauptverhandlung zu gestehen. In der Tat könnte man sagen, dass er lediglich seine Verteidigungsstrategie geändert hat. Sein Geständnis konnte deshalb nicht als Folge von Maßnahmen, die seine Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung verletzt hatten, angesehen werden. Der Gerichtshof schlussfolgerte deswegen, dass unter den besonderen Umständen des Falles des Beschwerdeführers, und insbesondere in Anbetracht der verlässlichen Beweismittel (die infolge der polizeilichen Beobachtung des Beschwerdeführers seit der Lösegeldabholung verfügbar waren), die infolge des erpressten Geständnisses erlangten Beweismittel lediglich von unterstützender Natur für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren. Ihre Verwertung hat daher die Verteidigungsrechte nicht ausgeschlossen und das Verfahren nicht insgesamt unfair gemacht. Folglich waren Artikel 6 Absätze 1 und 3 nicht verletzt worden.

EGMR Nr. 22978/05 – Urteil der 5. Kammer vom 30. Juni 2008 (Gäfgen vs. Deutschland); HRRS 2008 Nr. 627 (englisch)

Quelle: Presseerklärung 485 des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom 30.06.2008

Nachtrag: Die Große Kammer des EGMR entschied am 01.06.2010, dass ein Verstoß gegen das Recht auf faires Verfahren nach wie vor nicht vorläge, ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK wurde hingegen bejaht. Ein Wiederaufnahmeverfahren wird es nicht geben.

, , , ,