Das Amtsgericht sprach die Angeklagten in verschiedenen Verfahren vom Vorwurf des Erschleichens geringwertiger Leistungen frei. Obwohl die Angeklagten in mehreren Fällen öffentliche Verkehrsmittel benutzt hatten, ohne – wie bei Fahrausweiskontrollen festgestellt wurde – im Besitz eines gültigen Fahrscheins zu sein, sah das Amtsgericht kein strafbares Verhalten im Sinne des § 265 a Abs. 1 StGB. Die Angeklagten hätten sich jeweils bemüht, durch ihr Verhalten keine Aufmerksamkeit zu erregen, um den Eindruck zu erwecken, als nutzten sie die Straßenbahn mit einem gültigen Fahrausweis.
Das Oberlandesgericht Naumburg sah sich aber durch entgegengesetzte Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte, so des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 10. März 1989 – 1 Ss 635/88 (NJW 1990, 924, 925), des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 18. Dezember 1990 – 2a Ss 119/90 (NStZ 1991, 587, 588) sowie der Oberlandesgerichte Düsseldorf vom 30. März 2000 – 2b Ss 54/00 – 31/00 I (NJW 2000, 2120, 2121) und Frankfurt a.M. vom 16. Januar 2001 – 2 Ss 365/00 (NStZ-RR 2001, 269, 270), des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 21. Februar 1969 – RReg 3 a St 16/69 (NJW 1969, 1042, 1043) und vom 4. Juli 2001 – 5 St RR 169/01 (wistra 2002, 36) sowie des Oberlandesgerichts Koblenz vom 22. November 1994 – 2 Ss 332/94 (NStE Nr. 6 zu § 265 a StGB) gehindert, die Revisionen zu verwerfen. Diese Oberlandesgerichte vertreten die Auffassung, dass es für die Annahme der Strafbarkeit eines heimlichen Vorgehens des Täters, einer List, einer Täuschung oder einer Umgehung von Sicherungen oder Kontrollen nicht bedürfe.
Das Oberlandesgericht Naumburg hat deshalb die Sache dem Bundesgerichtshof zur Klärung der Rechtsfrage vorgelegt, ob ein Täter sich auch dann strafbar mache, wenn er ein ohne Fahrausweis ein Verkehrsmittel benutzt, sich dabei völlig passiv verhält, niemanden täuscht, keine Zugangssperren überwindet und lediglich hofft, nicht aufzufallen. Der BGH hat diese Frage bejaht und entschieden, dass eine Beförderungsleistung bereits dann im Sinne des § 265 a Abs. 1 StGB erschlichen wird, wenn der Täter ein Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit dem Anschein umgibt, er habe einen Fahrausweis. Ausdrücklich wies der BGH darauf hin, dass soweit vereinzelt Gesichtspunkte für eine Entkriminalisierung des „Schwarzfahrens“ sprechen können, dies für die Entscheidung unbeachtlich ist, da es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, allein dem Gesetzgeber vorbehaltene rechtspolitische Zielsetzungen zu verwirklichen.
Aus den Gründen:
Der Wortlaut der Norm (§ 265 a Abs. 1 StGB) setzt weder das Umgehen noch das Ausschalten vorhandener Sicherungsvorkehrungen oder regelmäßiger Kontrollen voraus. Nach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der „Erschleichung“ lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 8. Bd. [1999], Sp. 2136; Brockhaus, 10. Aufl. Bd. 2 S. 1217). Er enthält allenfalls ein „täuschungsähnliches“ Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss.
Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“ verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Da das Tatbestandsmerkmal schon im Hinblick auf seine Funktion der Lückenausfüllung eine weitere Auslegung zulässt, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, unter dem Erschleichen einer Beförderung jedes der Ordnung widersprechende Verhalten zu verstehen, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt (BVerfG Beschluss vom 9. Februar 1998 – 2 BvR 1907/97 = NJW 1998, 1135, 1136; vgl. auch BVerfG Beschluss vom 7. April 1999 – 2 BvR 480/99).
Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spricht für die Auslegung des Begriffs des Erschleichens im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung.
Die Vorschrift des § 265 a StGB geht, soweit sie das „Schwarzfahren“ unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 zurück (RGBl. I 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen, die sich bei der Erschleichung von Massenleistungen bezüglich der Anwendung des § 263 StGB ergaben (vgl. Lenckner/Perron aaO § 265 a Rdn. 1; Tiedemann aaO § 265 a Rdn. 1-3; Falkenbach, Die Leistungserschleichung, 1983, S. 70, 75-77).
Das Reichsgericht hatte bereits im Jahre 1908 in einem „Schwarzfahrerfall“ entschieden, dass der Tatbestand des § 263 StGB keine Anwendung finden könne, da nicht festgestellt war, in welcher Weise sich der Täter die Möglichkeit zur Benutzung der Eisenbahn verschafft und ob er einen Bahnmitarbeiter getäuscht hatte (RGSt 42, 40, 41); es hatte angeregt, die bestehende Strafbarkeitslücke für sogenannte blinde Passagiere durch eine neue Strafvorschrift zu schließen.
Die im Jahre 1935 eingeführte Vorschrift des § 265 a StGB entsprach fast wörtlich dem § 347 (Erschleichen freien Zutritts) des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927, in dessen Begründung es unter anderem heißt: „Erschleichen ist nicht gleichbedeutend mit Einschleichen. Auch wer offen durch die Sperre geht, sich dabei aber so benimmt, als habe er das Eintrittsgeld entrichtet, erschleicht den Eintritt. Auch ein bloß passives Verhalten kann den Tatbestand des Erschleichens erfüllen; so fällt auch der Fahrgast einer Straßenbahn unter die Strafdrohung, der sich entgegen einer bestehenden Verpflichtung nicht um die Erlangung eines Fahrscheins kümmert“ (Materialien zur Strafrechtsreform, 4. Band, Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches 1927 mit Begründung und 2 Anlagen [Reichstagsvorlage], Bonn 1954 [Nachdruck], S. 178/179; Die Strafrechtsnovellen vom 28. Juni 1935 und die amtlichen Begründungen, Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz Nr. 10, S. 41).
Die Vorschrift sollte also gerade diejenigen Fälle erfassen, in denen es unklar bleibt, ob der Täter durch täuschungsähnliches oder manipulatives Verhalten Kontrollen umgeht. Der gesetzgeberische Wille ist nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil sich die bei Schaffung des Gesetzes bestehenden Verhältnisse insoweit geändert haben, als heute, auch zu Gunsten einer kostengünstigeren Tarifgestaltung, auf Fahrscheinkontrollen weitgehend verzichtet wird (vgl. hierzu Rengier Strafrecht BT I 6. Aufl. § 16 Rdn. 6; Schmidt/Priebe Strafrecht BT II 4. Auflage Rdn. 512). Der Gesetzgeber hat die Bestimmung so weit gefasst, dass sie auch auf neue Fallgestaltungen angewendet werden kann (vgl. Senatsurteil vom 8. August 1974 – 4 StR 264/74).
Der erkennbare Wille des heutigen Gesetzgebers spricht ebenfalls für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Erschleichens im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung. Er wird daraus deutlich, dass § 265 a Abs. 1 StGB trotz der Angriffe von Teilen des Schrifttums gegen diese Rechtsprechung und trotz verschiedener Reformvorhaben unverändert gelassen wurde.
Zwei Gesetzesentwürfe scheiterten. Der Gesetzentwurf des Bundesrates (BTDrucks. 12/6484; BTDrucks. 13/374), der für eine Beförderungserschleichung eine Beschränkung des § 265 a StGB auf wiederholtes Handeln oder solches unter Umgehung von Kontrollmechanismen und die Einführung eines Ordnungswidrigkeitstatbestandes für erstmaliges Schwarzfahren vorsah, ist nach einer ersten Beratung im Bundestag nicht weiter behandelt worden. Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der unter anderem die Streichung der Alternative „Beförderung durch ein Verkehrsmittel“ in § 265 a StGB und die Ersetzung durch einen Bußgeldtatbestand vorsah (BTDrucks. 13/2005), wurde während der Beratungen zum 6. StrRÄndG abgelehnt (BTDrucks. 13/9064 S. 2, 7). Auch die Vorschläge der niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, die eine ersatzlose Streichung des § 265 a StGB gefordert hatte, und der hessischen Kommission „Kriminalpolitik“, die eine Ergänzung der dritten Alternative des § 265 a Abs. 1 StGB um das Merkmal der Täuschung einer Kontrollperson vorgeschlagen hatte, gaben dem Gesetzgeber keine Veranlassung zu einer Änderung bezüglich der Beförderungserschleichung.
Schließlich führt auch der Vergleich mit den anderen Tatbestandsalternativen des § 265 a Abs. 1 StGB zu keiner anderen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Erschleichen“. Zwar erfordert die unberechtigte Inanspruchnahme von Automatenleistungen oder von Leistungen eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationssystems in der Regel eine aktive Manipulation oder Umgehung von Sicherungsmaßnahmen. Dies folgt aber daraus, dass diese Leistungen nur auf eine spezielle Anforderung hin erbracht werden. Im Unterschied dazu wird die Beförderungsleistung dadurch für eine bestimmte Person erbracht, dass diese in das ohnehin in Betrieb befindliche Verkehrsmittel einsteigt und sich befördern lässt; eine vergleichbare aktive Umgehung von Kontrolleinrichtungen beim Zugang zu einem Verkehrsmittel ist daher schon der Sache nach nicht erforderlich (vgl. auch OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2001, 269, 270). Notwendig ist deshalb auch nicht, dass der Anschein ordnungsgemäßer Erfüllung der Geschäftsbedingungen gerade gegenüber dem Beförderungsbetreiber oder seinen Bediensteten erregt wird; es genügt vielmehr, dass sich der Täter lediglich allgemein mit einem entsprechenden Anschein umgibt. (…)
BGH, Beschluss vom 8. Januar 2009, Az: 4 StR 117/08 (Volltext – PDF)
Zur weiterführenden Information ist der Beitrag von Karsten Gaede, Der BGH bestätigt die Strafbarkeit der “einfachen Schwarzfahrt” – Zu Unrecht und mit problematischen Weiterungen, in HRSS 2009, 69 ff. zu empfehlen.
Berlin.de berichtete gestern, dass tausende Verfahren gegen Schwarzfahrer die Berliner Justiz beschäftigen. 16.302 Anzeigen der BVG gab es 2008 bei der Staatsanwaltschaft, darüber hinaus noch 7300 Anzeigen der S-Bahn. Rund 5000 Anzeigen betrafen Jugendliche und Heranwachsende. In 11.000 Fällen wurde Anklage erhoben. Gegen 230 Heranwachsende und 5.255 Erwachsene wurden Strafbefehle beantragt. Die Gerichte verhängten rund 3000 Mal eine Geldstrafe sowie 320 Freiheitsstrafen.