Aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Oldenburg befand sich die Angeklagte in Untersuchungshaft. In dem auf den Haftgrund der Schwere der Tat gestützten Haftbefehl wird der Angeklagten zur Last gelegt, versucht zu haben, ihren 4jährigen Sohn zunächst mit Fleckenwasser zu vergiften und ihn später erdrosselt zu haben. Untersuchungshaft darf nur dann angeordnet werden, wenn dringender Tatverdacht und ein Haftgrund besteht. Nach § 112 Abs. 3 StPO kann allerdings bei dringendem Mordverdacht Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nicht besteht.
Nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Oldenburg ließ das Landgericht Oldenburg – Schwurgericht – die Anklage der Staatsanwaltschaft wegen des vollendeten Mordes zur Hauptverhandlung zu, hinsichtlich des Vorwurfs des versuchten Mordes hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Der Haftbefehl blieb aufrechterhalten, wurde jedoch unter Erteilung von Auflagen und Weisungen außer Vollzug gesetzt. Zur Begründung führte das Landgericht aus, dass der in § 112 Abs. 3 StPO indizierten Fluchtgefahr durch andere Maßnahmen als durch den Vollzug der Untersuchungshaft begegnet werden könne.
Gegen den Außervollzugsetzungsbeschluss legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein und machte geltend, der Haftgrund der Schwere der Tat (§ 112 Abs. 3 StPO) sei weiterhin gegeben, denn eine Änderung der Verhältnisse seit Erlass des Haftbefehls liege nicht vor. Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und legte die Sache dem Oberlandesgericht Oldenburg zur Entscheidung vor. Dort wurde die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als unbegründet verworfen.
Aus den Gründen:
(…) Der mit der Beschwerde vertretenen Ansicht der Staatsanwaltschaft, angesichts des Haftgrundes der Schwere der Tat komme eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht in Betracht, kann nicht gefolgt werden. Der Senat teilt die Ansicht des Landgerichts, dass es eines Vollzugs des Haftbefehls nicht bedarf, da die im angefochtenen Beschluss aufgeführten weniger einschneidenden Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. § 112 Abs. 3 StPO lässt die Anordnung der Untersuchungshaft bei den darin aufgeführten Straftaten der Schwerkriminalität – u. a. Mord – auch zu, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO nicht besteht. Bei der nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (vgl. BVerfG NJW 1966, 243) gebotenen verfassungskonformen Auslegung ist die Vorschrift wegen eines sonst darin enthaltenen offensichtlichen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haftbefehls danach nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Die Haftanordnung oder die Fortdauer des Vollzuges ist verfehlt, wenn eine Flucht fern liegend erscheint. Unabhängig vom Wortlaut des § 116 StPO, der die Vollzugsaussetzung im Falle des § 112 Abs. 3 StPO nicht vorsieht, folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Zulässigkeit einer Haftverschonung bei dem Haftgrund der Schwerkriminalität (vgl. BVerfG a.a.O.. MeyerGoßner, StPO, 50. Auflage, § 116, Rd.Nr. 18 m.w.Nachw.). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet auch beim Haftgrund der schweren Tat die Außervollzugsetzung des Haftbefehls unter Auflagen, wenn dadurch erreicht werden kann, dass der Beschuldigte sich dem Verfahren nicht entzieht. (…)
OLG Oldenburg, Beschluss vom 28.11.2007, AZ: 1 Ws 639/07 (Justiz Niedersachsen)
Vorinstanz: LG Oldenburg, Beschluss vom 07.11.2007, AZ: 5 Ks 17/07