OLG München – Ersatzanspruch bei deckungsgleichem Vorschaden trotz Verschweigens


Ein Unfallgeschädigter machte gegen den Unfallgegner seinen Anspruch auf Ersatz des materiellen Schadens geltend. Die alleinige Haftung des Unfallgegners stand außer Frage. Trotzdem wies das Landgericht nach Beweisaufnahme die Klage ab, da ein verschwiegener Vorschaden und der streitgegenständliche Schaden sich nicht trennen ließen. Das Landgericht berief sich dabei auf eine Entscheidung des OLG Köln (Urteil vom 22.02.1999 – 16 U 33/98, NZV 1996, 241) wonach beim Vorliegen nicht kompatibler Schäden an einem Fahrzeug, auch für diejenigen Schäden, die dem Unfallereignis zugeordnet werden könnten, kein Ersatz zu leisten ist. Die Berufung des Unfallgeschädigten war teilweise erfolgreich.

Das Oberlandesgericht München entschied, dass im Fall eines zunächst verschwiegenen, mit dem geltend gemachten Schaden ganz oder teilweise deckungsgleichen Vorschadens, ein Ersatzanspruch besteht, wenn der geltend gemachte Zweitschaden technisch und rechnerisch eindeutig von dem Vorschaden abgrenzbar ist.

Aus den Gründen:

Der nach seiner Behauptung durch einen Verkehrsunfall Geschädigte hat im Streitfall den Unfall und den ihm daraus erwachsenen Schaden zu beweisen. Ob ihm dies ganz oder wenigstens teilweise gelungen ist, hat das Gericht nach Maßgabe der §§ 286, 287 ZPO festzustellen (…). Hinsichtlich der Schadenshöhe kommt dem Geschädigten grundsätzlich die Erleichterung des § 287 ZPO zu Gute. § 287 ZPO entbindet aber nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zugunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen „alles offen” bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (BGH, VersR 1970, 924 [927]; Senat, Beschl. v. 25. 11. 2005 – 10 U 2378/05). In Fällen eines verschwiegenen Vorschadens sind bei der Beweiswürdigung natürlich strengere Maßstäbe anzulegen (so zurecht OLG Hamm, OLGR 1993, 257 = r+s 1994, 59 = SP 1994, 154).

Daraus folgt für die Fälle eines (zunächst) verschwiegenen, mit dem geltend gemachten Schaden ganz oder teilweise deckungsgleichen Vorschadens, dass ein Ersatzanspruch nur insoweit besteht, als der geltend gemachte Zweitschaden technisch und rechnerisch eindeutig von dem Vorschaden abgrenzbar ist (so der Senat in st. Rspr., zuletzt Urt. v. 22. 4. 2005 – 10 U 5880/04; ebenso OLG Hamm, aaO [i. Erg.]; LG Augsburg, NJW-RR 2004, 22; LG Wuppertal, SP 2005, 197). aa) Dem steht die vom Erstrichter und auch in zahlreichen anderen Entscheidungen zitierte Entscheidung OLG Köln, NZV 1996, 241 nicht entgegen. (…)

Das OLG Köln hat (…) seine Rechtsprechung dahin verallgemeinert, dass einem Kl., der jeden Vorschaden bestreitet, der Ersatz auch hinsichtlich kompatibler Schäden zu versagen ist, weil sich auf Grund des nicht kompatiblen Schadens nicht „ausschließen” lasse, dass auch die kompatiblen Schäden durch ein früheres Ereignis verursacht worden seien (NZV 1999, 378 = VersR 1999, 865; ebenso OLG Frankfurt a. M., NJOZ 2004, 3610 [3612]; LG Dresden, SP 2001, 335; LG Hanau, SP 2004, 368; AG Mühlheim, SVR 2004, 466; AG Neuss, SP 2005, 197).

Der Senat vermag aber dieser Argumentation schon deshalb nicht zu folgen, weil es im Rahmen der §§ 286, 287 ZPO grundsätzlich nicht darauf ankommt, ob etwas „ausgeschlossen” werden kann:

Nach § 286 I ZPO hat das Gericht nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (grdl. RGZ 15, 338 [339]; ferner Senat, Urt. v. 1. 7. 2005 – 10 U 2544/05) – absolute oder unumstößliche Gewißheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit”, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946 [948], st. Rspr., zuletzt NJW 2003, 1116 [1117]; Senat aaO).

Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich dazu BGH, VersR 1970, 924 [926 f.]; BGHZ 126, 217 ff. = NJW 1994, 3295 [3297]; NJW 2003, 1116 [1117]; Senat, Beschl. v. 25. 11. 2005 – 10 U 2378/05).

Nicht gefolgt werden kann auch der Ansicht, bei einem zunächst verschwiegenen und auch später geleugneten oder nicht substantiiert dargelegten Vorschaden sei die Möglichkeit einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO mangels hinreichend substantiiertem Klagevortrag grundsätzlich zu verneinen (vgl. etwa OLG Hamburg, SP 1992, 232; MDR 2001, 1111= OLGR 2001, 261 = r+s 2001, 455; KG, SP 2000, 311; LG Frankfurt, SP 1992, 232; LG Braunschweig, SP 1999, 272; LG Saarbrücken, SP 2003, 423; LG Wiesbaden, VersR 2003, 1297; LG Berlin, NJOZ 2004, 2001; LG Bremen, NZV 2005, 529):

Zunächst ist zu beachten, dass § 287 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung erleichtert, sondern auch seine Darlegungslast reduziert (BGHZ 74, 221 [226]; BGH, NJW-RR 1988, 410; DAR 1992, 262; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 287 Rz. 9). Eine Substantiierung, also die Konkretisierung und Detaillierung des Vortrags der klagebegründenden Tatsachen, kann von ihm im Rahmen des § 287 ZPO nicht in gleicher Weise gefordert werden wie hinsichtlich anderer tatsächlicher Fragen (BGH aaO). Die Klage darf daher nicht wegen lückenhaften Vortrags zur Schadensentstehung und Schadenshöhe abgewiesen werden, solange greifbare Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung vorhanden sind (BGH, NJW-RR 1988, 410; Thomas/Putzo/Reichold aaO). Solche Anhaltspunkte für eine Schadensschätzung sind aber, wie dargelegt, im vorliegenden Fall zweifelsfrei gegeben.

OLG München, Urteil vom 27.01.2006, Az: 10 U 4904/05 (NZV 2006, 261 f.)

Die gegenläufige Entscheidung des OLG Köln, Urteil vom 22.02.1999, Az: 16 U 33/98 (NZV 1999, 378), lautet:

Ist bewiesen, dass nicht sämtliche Schäden, die das Unfallfahrzeug aufweist, auf das Unfallereignis zurückzuführen sind, und macht der Geschädigte zu den nicht kompatiblen Schäden keine Angaben bzw bestreitet er das Vorliegen solcher Vorschäden, so ist ihm auch für diejenigen Schäden, die dem Unfallereignis zugeordnet werden könnten, kein Ersatz zu leisten. Denn aufgrund des Vorschadens lässt sich nicht ausschließen, dass auch die kompatiblen Schäden durch das frühere Ereignis verursacht worden sind.

Mit der gleichlautenden Begründung wies auch das Kammergericht mit Urteil vom vom 17.10.2005, Az.: 12 U 55/05, die Klage eines Unfallgeschädigten auf Schadenersatz ab.

Praxisrelevanz:

Bei durch einen Unfall beschädigten Fahrzeugen sind nicht selten Vorschäden aus früheren Unfällen vorhanden. Diese können das Ausmaß des aktuellen Schadens beeinflussen, oder aber ein vorhandenen Vorschaden kann durch einen Neuschaden überdeckt werden. Ein Vorschaden ist häufig schwer zu erkennen und eröffnet demzufolge Betrugsmöglichkeiten. Wenn ein Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt bereits nachweisbar Vorschäden aufweist, sollte der Unfallgeschädigte dies seinem Sachverständigen mitteilen, nur so kann dieser klar abgrenzen, welche Schäden auf den aktuellen Unfall zurückzuführen sind. Der Unfallgeschädigte muss genau darlegen und beweisen, welche Schäden auf den letzten Unfall zurückzuführen sind und welche nicht. Werden Vorschäden verschwiegen, geht ein Unfallgeschädigter unter Umständen leer aus.

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