Ein Motorradfahrer war mit einer Geschwindigkeit von ca. 200 km/h auf der Autobahn unterwegs. In dem Autobahnabschnitt bestand keine Geschwindigkeitsbegrenzung. In Höhe einer Auffahrt kam es zu einem Auffahrunfall, als ein Autofahrer von der rechten auf die linke Spur wechselte, um einem anderen Fahrzeug das Einfädeln zu ermöglichen. Der Motorradfahrer, der sich von hinten auf der linken Spur schnell näherte, konnte nicht mehr bremsen und prallte mit ca. 190 km/h gegen das Auto. Bei der Kollision erlitten sowohl der Motorradfahrer, als auch der Autofahrer erhebliche Verletzungen, das Motorrad und das Auto wurden schwer beschädigt.
Der Motorradfahrer verlangte Schadenersatz, wobei er seine eigene Mithaftung auf Grund der unstreitig hohen Geschwindigkeit mit 25% einstufte. Der Autofahrer meinte, dem Motorradfahrer stehe gar nichts zu und verlangte seinerseits Schadenersatz. Da keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden nachweisbar war, sah das Landgericht Mainz nach Abwägung der Betriebsgefahr einen Mithaftungsanteil des Motorradfahrers von 50% als gerechtfertigt an. Hiergegen legte der Motorradfahrer Berufung zum OLG Koblenz ein, ohne Erfolg. Mit Urteil vom 08.01.2007, Az: 12 U 1181/05, bestätigte das Oberlandesgericht Koblenz die Rechtsauffassung des Landgericht Mainz.
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat zu Recht jedem Unfallbeteiligten einen hälftigen Mitverursachungsanteil zugewiesen. Hinsichtlich der Tatsachengrundlage schließt sich der Senat der Auffassung des Landgerichts an, wonach keine Seite der anderen ein Verschulden nachweisen kann. (…)
Ist also davon auszugehen, dass auf beiden Seiten ein Verschulden nicht nachweisbar ist, so muss die beiderseitige Betriebsgefahr gegeneinander abgewogen werden. Hinsichtlich des Fahrverhaltens des Beklagten zu 1) ist der bei Herannahen rückwärtigen Verkehrs immer gefahrvolle Fahrspurwechsel zu berücksichtigen. Dagegen steht die Geschwindigkeit des Klägers von etwas über 200 km/h. Diese durfte er fahren, hatte jedoch damit die Autobahn-Richtgeschwindigkeit von 130 km/h um mehr als 70 km/h überschritten. Dass diese Tatsache zu einer Mithaftung des Klägers führen muss, ist nunmehr unstreitig. Zu Unrecht allerdings meint der Kläger, die ihm anzulastende Quote dürfe 25 % nicht übersteigen. Mit Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um rund 60 % hat der Kläger ein erhebliches Gefahrenpotential geschaffen, das sich bei dem hier in Rede stehenden Unfall auch ausgewirkt hat. Unstreitig wäre es zu dem Zusammenstoß nicht gekommen, wenn der Kläger die Richtgeschwindigkeit eingehalten hätte. (…)
Die Richtgeschwindigkeit ist aber gerade empfohlen worden, um die Gefahren herabzusetzen, die aus dem Betrieb eines Kfz mit hoher Geschwindigkeit erfahrungsgemäß herrühren. Diese beruhen u.a. darauf, dass ein Kraftfahrer bei einer solchen Geschwindigkeit nur noch dann unfallfrei bleiben kann, wenn alle anderen Verkehrsteilnehmer sich absolut fehlerfrei verhalten. Der öffentliche Straßenverkehr ist nämlich dadurch geprägt, dass sich erlaubtermaßen in ihm eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern bewegen, die dabei den Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung einschließlich des zentralen Gebots der Rücksichtnahme unterworfen sind. Damit stellt der Straßenverkehr ein Regelungssystem dar, innerhalb dessen bei Einhaltung der in ihm geltenden Bestimmungen und rücksichtsvoller Fahrweise Unfälle weitestgehend vermieden werden können. Jede Straßenverkehrssituation beinhaltet demnach einen Spielraum, innerhalb dessen sogar mittelschwere Regelverstöße und kurzfristige Unaufmerksamkeiten durch die anderen Verkehrsteilnehmer ausgeglichen werden können. Bei einer Geschwindigkeit, wie sie der Kläger inne hatte, ist dies aber nicht mehr möglich. Wer so fährt führt zugunsten seines eigenen schnellen Fortkommens den gegebenen Unfallvermeidungsspielraum gegen Null zurück. Eine Geschwindigkeit von mehr als 200 km/h ermöglicht es nicht mehr, Unwägbarkeiten in der Entwicklung einer regelmäßig durch das Handeln mehrerer Verkehrsteilnehmer geprägten Verkehrssituation rechtzeitig zu erkennen und sich darauf einzustellen. Ebenso wird es unmöglich, ein leichtes Fehlverhalten anderer durch eigene, zumutbare Abwehrmaßnahmen aufzufangen. Des Weiteren erlaubt nur ständige, hoch konzentrierte Aufmerksamkeit, das Fahrzeug in Anpassung an die jeweilige Verkehrslage jederzeit technisch zu beherrschen. Dies bedeutet, dass ein auch nur kurzfristiges Nachlassen der Aufmerksamkeit unfallträchtig ist. Bei solcher Fahrweise wird deshalb die dem Grundsatz nach allen Verkehrsteilnehmern als Risikogemeinschaft auferlegte Pflicht zu unfallvermeidendem Fahren allein auf die anderen verlagert (vgl. BGHZ 117, 343). (…)
Nur am Rande sei angemerkt, dass die genannten Überlegungen selbstverständlich auch dann zu einer ebenfalls deutlichen Mithaftung führen müssten, wenn eine mitursächlich gewordene Geschwindigkeit von mehr als 200 km/h gegen ein (leichtes) Verschulden abzuwägen wäre.
Praxisrelevanz:
Die Richtgeschwindigkeit 130 km/h auf deutschen Autobahnen ist mehr als nur ein „Empfehlung“. Wer die Richtgeschwindigkeit überschreitet, haftet im Falle eines Unfalls verschuldensunabhängig, allein aus der Betriebsgefahr seines Fahrzeuges. Eine erhebliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit, wie im vorliegenden Fall, führt dann letztlich auch zu einer entsprechend hohen Mithaftung, so dass ein Großteil des eigenen Schadens selbst zu tragen ist.
OLG Koblenz, Urteil vom 08.01.2007, Az: 12 U 1181/05
Vorinstanz: LG Mainz, Urteil vom 20.07.2005, Az: 3 O 20/04