OLG Düsseldorf – Fahrrad fahren ohne Helm begründet bei einem Freizeitradler kein Mitverschulden im Falle eines Unfalls


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Ein Radfahrer fuhr mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h auf seinem Freizeitrad einen Radweg entlang. Vor ihm auf der gepflasterten Freifläche einer Bushaltestelle stand eine Fußgängerin und unterhielt sich mit Bekannten. Als sich der Radfahrer auf 10 Meter der Personengruppe genähert hatte, klingelte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Fußgängerin machte daraufhin eine Körperbewegung in Richtung auf den Radweg, wobei sie den Weg nur mit dem Fuß leicht berührte. Der Radfahrer sah sich veranlasst, eine Vollbremsung einzuleiten. Durch das blockierende Vorderrad kippte er mit dem Fahrrad vornüber und fiel über das Lenkrad zu Boden. Der Radfahrer erlitt einen Unfallschock, Schürfwunden, Prellungen und einen Hörsturz. Einen Schutzhelm trug der Radfahrer nicht, was für die Beurteilung der Frage, ob und welcher Höhe im Schadenersatz zusteht, eine erhebliche Rolle spielte.

Der Radfahrer klagte gegen die Fußgängerin auf Schadenersatz und Schmerzensgeld, wobei er von einem Mindestbetrag von 5.000 EUR ausging. Das erstinstanzlich angerufene Landgericht Düsseldorf verurteilte die Fußgängerin, dem Radfahrer einen Teil seiner Heilbehandlungskosten sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von 300 EUR zu zahlen.

Die Fußgängerin habe sich nach der Entscheidung des Landgerichts zwar entgegen des Rücksichtnamegebotes des § 1 Abs. 2 StVO als auch aus der Tatsache, dass das Durchfahrtsvorrecht des Längsverkehrs grundsätzlich auch für Radfahrer auf Radwegen gelte, pflichtwidrig verhalten. Der Schritt auf den Radweg habe bei dem Radfahrer den Eindruck entstehen lassen müssen, dass die Fußgängerin ihren Weg über den Radweg fortsetzen werde, wodurch der Kläger sich zur Vollbremsung gezwungen sehen musste. Der Radfahrer trage allerdings gemäß § 254 Abs. 1 BGB einen Mitverschuldensanteil von 70 % an dem Unfall und seinen Folgen. Wäre er langsamer auf die Beklagte zugefahren, hätte er den Unfall vermeiden oder zumindest in seinen Folgen abmildern können. Darüber hinaus sah es das Landgericht Düsseldorf als anspruchsmindernden Umstand an, dass der Radfahrer das Tragen eines Schutzhelmes unterlassen habe. Der Schaden an seinem Gehör hätte durch das Tragen eines Helms verringert oder sogar verhindert werden können.

Gegen diese Entscheidung legte der Radfahrer Berufung ein, wobei er seine Schmerzensgeldvorstellungen auf einen Mindestbetrag von nur noch 3.000 EUR reduzierte. Das Oberlandesgericht Düsseldorf gab dem Radfahrer mit Urteil vom 18.06.2007 – I-1 U 278/06 – überwiegend Recht. Die Fußgängerin wurde verurteilt, an den Radfahrer dessen Heilbehandlungskosten sowie ein Schmerzensgeld von 2.000 EUR zu zahlen.

Aus den Gründen:

Entgegen der durch das Landgericht vertretenen Ansicht muss sich der Kläger kein Mitverschulden anspruchsmindernd anrechnen lassen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO zu schnell war. Ein schnelleres Fahrtempo lässt sich weder damit begründen, dass wegen der eingeleiteten Notbremsung das Hinterrad des Fahrrades fast senkrecht über dem Vorderrad stand und der Kläger mit dem Kopf über das Lenkrad hinweg zu Boden stürzte, noch legt die Bauart des durch den Kläger benutzten Tourenfahrrades – anders als ein Rennrad – eine überdurchschnittlich hohe Geschwindigkeit nahe.

Der Umstand, dass das Bremsmanöver des Klägers möglicherweise heftiger ausgefallen ist, als dies nach den Umständen objektiv erforderlich war, reicht zum Vorwurf eines mitwirkenden Verschuldens im Sinne des § 254 BGB nicht aus. Nach ständiger Rechtsprechung ist das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers – hier in Form einer zu heftigen Bremsreaktion – dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (BGH DAR 1976, 185 m. w. Rechtsprechungsnachweisen; so auch Senat, Urteil vom 1. Oktober 2001, Az.: 1 U 206/00; Urteil vom 13. September 2004, Az.: I-1 U 31/04; Senat NZV 2006, 415, 416).

Auch der Umstand, dass der Kläger bei dem Unfallereignis keinen Fahrrad-Schutzhelm getragen habe, stellt nach Auffassung des OLG Düsseldorf keine anspruchsmindernde Obliegenheitsverletzung dar. Zum einen gehört der Kläger nicht zu den besonderes gefährdeten Radfahrergruppen, von welchen ohne weiteres abverlangt werden kann, zum eigenen Schutz vor Unfallverletzungen einen Sturzhelm zu tragen. Unabhängig davon lässt sich nicht feststellen, dass der Eintritt der durch den Kläger sturzbedingt erlittenen Verletzungen durch den Schutz eines Helms hätte verhindert werden können.

Nach der bisher herrschenden Rechtsprechung begründet das Radfahren ohne Schutzhelm – zumindest bei Erwachsenen – nicht den Vorwurf des Mitverschuldens (OLG Hamm NZV 2001, 86; OLG Hamm NZV 2002, 129; OLG Stuttgart VRS 97, 15; OLG Nürnberg DAR 1991, 173; OLG Nürnberg DAR 1999, 507; OLG Karlsruhe NZV 1991, 25; Senat, Urteil vom 13. Januar 2003, Az.: 1 U 110/02). Zur Begründung wird zumeist ausgeführt, eine allgemeine Verkehrsanerkennung der Notwendigkeit einer solchen Schutzmaßnahme sei (noch) nicht festzustellen. Zu beobachten ist aber, dass sich gerade in den zurückliegenden Jahren die Akzeptanz des Tragens von Fahrradhelmen allgemein erhöht hat, mag auch die Anzahl der nicht Helm tragenden Fahrradfahrer zumindest innerorts noch deutlich überwiegen (Senat, Urteil vom 12. Februar 2007, Az.: 1 U 182/06).

In dieser Entscheidung hat der Senat bezüglich der grundsätzlichen Frage, ob die Unterlassung des Tragens eines Schutzhelms einen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß darstellt, eine differenzierende Ansicht vertreten: Diese Frage könne nicht pauschal für alle am Straßenverkehr teilnehmenden Radfahrer gleich beantwortet werden. Vielmehr erscheine es im Hinblick auf die vollkommen unterschiedlichen Fahrweisen und die damit einhergehenden Gefahren und Risiken geboten, eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Radfahrergruppen vorzunehmen, u.a. auch danach, ob der Radfahrer einen Radweg benutzt habe oder auf der Straße gefahren sei, wobei wiederum zwischen einer innerörtlichen und einer außerörtlichen Verkehrssituation zu unterscheiden sei.

Dem herkömmlichen Freizeitradfahrer, der sein Gefährt als normales Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr ohne sportliche Ambitionen einsetzt, hat der Senat den Radsport betreibenden Rennradfahrer gegenübergestellt. Während dem ersteren mangels entsprechender allgemeiner Übung nicht ohne weiteres abverlangt werden könne, zu seinem eigenen Schutz vor Unfallverletzungen einen Schutzhelm zu tragen, sei die Lage in Bezug auf den letzteren anders zu beurteilen. Denn bei Rennradfahrern sei die Akzeptanz und die Bereitschaft des Tragens von Schutzhelmen deutlich ausgeprägter sei als bei „normalen“ Radfahrern. Deshalb bestehe grundsätzlich für ihren Sport betreibende Rennradfahrer die Obliegenheit zum Tragen eines Schutzhelmes.

Knüpft man dann die obige Differenzierung an, bedarf es keiner weiteren Ausführungen dazu, dass der Kläger zu den „normalen“ Radfahrern zählt, die ihr Zweirad als gewöhnliches Fortbewegungsmittel ohne sportliche Ambitionen einsetzen. Er hatte ein gefedertes Tourenfahrrad in Benutzung, mit welchem er einen innerörtlichen Radweg mit der moderaten Geschwindigkeit von 15 km/h befuhr. Im Vergleich zu einem sportlichen Rennradfahrer war sein Unfallrisiko und das Ausmaß seiner Eigengefährdung deutlich geringer. Da sich jedenfalls für einen Fahrradfahrer der durch den Kläger repräsentierten Gruppe noch kein allgemeines Schutzbewusstsein die Notwendigkeit eines Helmschutzes betreffend feststellen lässt, kann aus der Tatsache, dass er sein Fahrrad ohne Helm benutzt hat, keine anspruchsmindernde Obliegenheitsverletzung nach Maßgabe des § 254 BGB abgeleitet werden. Unabhängig davon hätte ein Fahrradhelm ohnehin nicht den Eintritt der Verletzungen verhindern können, die sich bei dem Kläger eingestellt haben.

Der Senat lässt gegen seine Entscheidung die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Ziffer 2 ZPO zu. Die Zulassung betrifft die Fragen der Sorgfaltspflicht eines Radfahrers gegenüber einem Fußgänger auf einem getrennten Rad- und Fußweg (Zeichen Nr. 241 zu § 41 StVO) sowie der Obliegenheitsverletzung durch das Unterlassen des Tragens eines Schutzhelmes im innerstädtischen Verkehr bei einer Fahrt mit einem nicht für einen Sporteinsatz konzipierten Fahrrad.

OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2007, Az: I-1 U 278/06

Nachtrag:
Auf die Revision der Beklagten hob der BGH das Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Entscheidung an das OLG Düsseldorf zurück (BGH, Urteil vom 6. 11. 2008 – VI ZR 171/ 07, da ein Mitverschulden des Radfahrers anzunehmen sei, allerdings – darauf wies der BGH hin – nicht wegen des nicht getragenen Fahrradhelms.

Quelle: Pressemitteilung des OLG Düsseldorf vom 16.08.2007

Der 1. Senat des OLG Düsseldorf urteilte mit der in der vorstehenden Entscheidung erwähnten Entscheidung (Urteil vom 12.02.2007, Az: I-1 U 182/06) bei einem Radrennfahrer – ungeachtet der Tatsache, dass eine gesetzlich normierte Pflicht zum Tragen eines Fahrradhelms nicht besteht – dass ein erhebliches Mitverschulden darin gesehen werden muss, dass der Rennradfahrer zum Unfallzeitpunkt keinen Schutzhelm trug. Eine Selbstgefährdung werde durch die Rechtsordnung regelmäßig nicht verboten; gleichwohl sehe § 254 BGB als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben eine Anspruchsminderung des Geschädigten vor, wenn er vorwerfbar die eigenen Interessen außer Acht lässt und ihn insofern ein „Verschulden gegen sich selbst“ treffe.

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