Kammergericht – Sitzungshaftbefehl dient nicht dazu „Ungehorsam“ zu ahnden


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Der Haftbefehl nach den § 230 Abs. 2, § 236 StPO erfüllt im Strafbefehlsverfahren nicht den Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu ahnden. Vor Erlass des Haftbefehls ist daher zu prüfen, ob die Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Angeklagten ohne Einbußen bei der Wahrheitsfindung, der gerechten Beurteilung des Falles und der gebotenen Einwirkung des Verfahrensablaufs auf den Angeklagten durchgeführt werden kann. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Erlass eines Haftbefehls unverhältnismäßig.

Das Amtsgericht Tiergarten hatte gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen eines Vergehens nach dem Versammlungsgesetz erlassen. Nach Einspruch des Angeklagten wurde Termin zur Hauptverhandlung anberaumt, zu dem der gemäß § 411 Abs. 2 StPO durch seine Verteidigerin vertretene Angeklagte nicht erschien, obwohl sein persönliches Erscheinen angeordnet worden war. Das Amtsgericht hat daraufhin gegen ihn Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO erlassen und ihn zugleich von dem Vollzug der Haft verschont. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten hatte das Landgericht verworfen. Die weitere Beschwerde hatte beim Kammergericht Erfolg.

Aus den Gründen:

Der nach § 230 Abs. 2 StPO erlassene Haftbefehl kann keinen Bestand haben. Dem Erlass des Haftbefehls nach dieser Vorschrift stand allerdings nicht entgegen, dass sich ein Angeklagter nach dem Einspruch gegen einen Strafbefehl gemäß § 411 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung durch einen mit einer schriftlichen Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen kann. Denn die Strafrichterin hatte vorliegend das persönliche Erscheinen des Angeklagten gemäß § 236 StPO angeordnet. Diese Maßnahme und im Falle ihrer Nichtbefolgung die Verhängung angedrohter Zwangsmittel – Erlass eines Vorführungs- oder Haftbefehls – werden durch die im Strafbefehlsverfahren nach § 411 Abs. 2 StPO bestehende Möglichkeit der Vertretung durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger nicht ausgeschlossen.

Gleichwohl durfte die Strafrichterin im vorliegenden Fall aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht ohne weiteres den Haftbefehl erlassen. Denn der Haftbefehl nach den §§ 230 Abs. 2, 236 StPO erfüllt im Strafbefehlsverfahren, dem die Verhaftung des Angeklagten strukturell fremd ist, nicht den Selbstzweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu ahnden. Er soll die Durchführung der Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der Aufklärungspflicht und der gestalterischen Vorstellungen des Tatrichters sichern. Dabei muss das Gericht in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens auch diejenigen Umstände berücksichtigen, die der Zumutbarkeit des Erscheinens des Angeklagten entgegenstehen, und zwar auch dann, wenn sie ihm erst nach der Anordnung, an die es selbst nicht gebunden ist, bekannt geworden sind.

Daher ist vor Erlass des Haftbefehls die Prüfung erforderlich, ob das Gericht die Hauptverhandlung trotz des Ungehorsams des Angeklagten gleichwohl ohne Einbußen bei der Wahrheitsfindung, der gerechten Beurteilung des Falles und der gebotenen Einwirkung des Verfahrensablaufs auf den Angeklagten durchführen kann. Eine solche Prüfung ist hier unterblieben. Der Angeklagte war nach Aktenlage durch eine ausreichend informierte Verteidigerin in der Hauptverhandlung vertreten, die ersichtlich auch zu einer Sachverhandlung gewillt war. Ferner ist weder erkennbar noch von der Strafrichterin konkret dargelegt worden, dass die persönliche Anwesenheit des Angeklagten im Termin aus Gründen der ausreichenden Sachaufklärung oder sonstigen Gründen der Prozessgestaltung geboten war.

Aus der dienstlichen Äußerung der Strafrichterin zu dem gegen sie gerichteten Ablehnungsgesuch des Angeklagten ergibt sich vielmehr, dass sie in Straf befehlsverfahren „grundsätzlich“ das persönliche Erscheinen anordnet und der Sinn der Anordnung für sie „hauptsächlich“ darin besteht, dass sie im Fall des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten Zwangsmaßnahmen gemäß § 230 Abs. 2 StPO „erlassen kann bzw. muss“, weil die Anordnung „nicht einfach nach Gutdünken des Angeklagten (…) aufgehoben werden könne“. Letzteres trifft zwar zu, rechtfertigt für sich genommen aber nicht den Erlass eines Haftbefehls.

Des Weiteren hat die Strafrichterin nicht erkennbar berücksichtigt, dass es sich um eine Tat von eher geringer strafrechtlicher Bedeutung handelt, worauf bereits die Festsetzung der Geldstrafe von 25 Tagessätzen in dem Strafbefehl schließen lässt, und der Angeklagte eine längere Anreise hätte auf sich nehmen müssen. Sie hat zudem, wie der Sitzungsniederschrift zu entnehmen ist, nicht einmal den Versuch unternommen, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, obwohl zwei der drei geladenen Zeugen, bei denen es sich sämtlich um Polizeibeamte handelt, erschienen waren und nach dem schriftsätzlichen Vortrag der Verteidigerin vor dem Hauptverhandlungstermin vom Angeklagten der Tatvorwurf in objektiver Hinsicht nicht bestritten wurde.

Der dienstlichen Äußerung zufolge hat die Strafrichterin den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO auch deshalb erlassen, weil sie der Auffassung war, dass dieser „ergehen muss, um in Hinblick auf die mögliche Kostenfolge des § 467 Abs. 2 StPO im Falle – einer nicht ausschließbaren Freisprechung – klarzustellen, dass der Angeklagte den Termin schuldhaft versäumt hat“. Das ist schon deshalb rechtsirrig, weil die Tatsachen, aus denen sich die schuldhafte Säumnis im Sinne des § 467 Abs. 2 StPO ergibt, im Freibeweisverfahren festzustellen sowie in den Urteilsgründen darzulegen sind und die Anwendung dieser Vorschrift eine entsprechende Anordnung im Tenor des freisprechenden Urteils erfordert. Dass die mögliche Anwendung des § 467 Abs. 2 StPO keine zulässige Ermessenserwägung bei der Prüfung des Erlasses eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO darstellt, bedarf keiner weiteren Erörterung.

Kammergericht, Beschluss vom 01.03.2007, AktZ.: 4 Ws 26/07

zur Unverhältnismäßigkeit eines Sitzungshaftbefehls siehe auch die Entscheidung des BVerfG vom 27.10.2006, AktZ.: 2 BvR 473/06

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