Am 10. März 2009 fischten Taucher bei Neuburg in Bayern einen verschlammten Mercedes E 230 aus der Donau. Hinter dem Steuer fand man eine teilweise skelettierte Leiche. Er handelte sich um den seit dem 13. Oktober 2001 vermissten Landwirt Rudi R., dessen Leiche nach den Feststellungen des Landgerichts Ingolstadt aber eigentlich gar nicht mehr existieren dürfte. Acht Jahre zuvor soll Rudi R. von seiner Familie erschlagen, zerstückelt und anschließend an die Hofhunde verfüttert worden sein.
Das Landgericht Ingolstadt begründete damals die Verurteilung u.a. mit Geständnissen, die von den noch unverteidigten Beschuldigten unter fragwürdigen Umständen abgelegt, im Strafverfahren aber widerrufen worden waren, sowie Zeugenaussagen, welche die unglaublich grausame Tat angeblich stützten. Dass die Angeklagten sich das ausgedacht hätten, „kann wohl niemand ernsthaft glauben“, stellte das Gericht in seiner Urteilsbegründung fest. So kann man sich irren.
Seit dem Auftauchen der Leiche kämpft die Verteidigung bislang aber erfolglos um eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich, warum man darum kämpfen muss, es ist doch ein offensichtlich fehlerhaftes Urteil. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist nach deutschem Recht in der Tat aber nur unter bestimmten, sehr engen Voraussetzungen möglich. Auch ein fehlerhaftes, aber rechtskräftiges Urteil kann von einigen wenigen gesetzlichen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nicht mehr aufgehoben werden.
Eine der Ausnahmen ist in § 359 Nr. 5 StPO geregelt, wonach zugunsten des Verurteilten eine Wiederaufnahme zulässig ist, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die zu einem Freispruch oder einer geringeren Bestrafung führen könnten. Auch wenn man einen Freispruch einmal zurückstellt, wäre eine geringere Bestrafung allemal wahrscheinlich. Woran also liegt es, dass die Justiz an diesem Urteil festhält?
Das Urteil des Landgerichts Ingolstadt ist in mehreren Punkten eklatant falsch. Der Landwirt befand sich in einem zwar skelettierten, aber doch vollständigem Zustand und wurde, wie die Obduktion ergab, auch nicht erschlagen. Der Mercedes soll nach der Aussage eines Mitarbeiters eines Schrotthändlers einen Tag nach der Tat in der Presse gelandet sein. Als der Mitarbeiter im Strafverfahren von dieser Aussage abrücken wollte, drohten ihm Gericht und Staatsanwaltschaft mit einen Verfahren wegen Falschaussage. Der Schrotthändler selbst saß wegen des Verdachts der Strafvereitelung in Untersuchungshaft. Nun taucht das angeblich verschrottete Auto plötzlich wieder auf.
Trotzdem sah das Landgericht Landshut die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme offensichtlich nicht als gegeben an und lehnte einen Antrag der Verteidigung ab. Zwar könne man ausschließen, dass R. erschlagen und zerstückelt wurde, doch seien damit nur die Feststellungen des Landgerichts Ingolstadt zur konkreten Art der Tötung und Entsorgung der Leiche widerlegt, das Landgericht Ingolstadt habe sich nicht ausschließlich auf die widerrufenen Geständnisse gestützt, sondern wurde anhand anderer, weiterhin „aussagekräftiger Indizien“ bestätigt. Welche Indizien das sein sollen, darüber kann man – solange die Entscheidung nicht vollständig veröffentlicht wird – nur spekulieren.
Zwar hatten alle Beschuldigten unabhängig voneinander den Tathergang – nach stundenlangen Verhören – detailliert in allen grausigen Details geschildert, wonach man Rudi R. zunächst mit einem Kantholz niederschlug, ihm dann mit einem Hammer den Schädel zertrümmerte, den Leichnam danach mit einer Axt und einer Eisensäge zerteilte, ausweidete und die Einzelteile dann an die Hunde verfütterte. Angesichts einer solchen „Schlachtung“ hätte man auf dem Hof Spuren von Blut und Knochenreste finden müssen. Die kriminaltechnischen Untersuchungen ergaben allerdings nicht den Hauch einer Spur. Die nach dem Auffinden von Rudi R. durchgeführte Obduktion ergab dann auch, dass die Leiche keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung aufwies, auch keine Spuren von Gift oder Tabletten. Die Todesursache ist damit völlig unklar.
Trotzdem kommt das Landgericht Landshut zu dem Schluss, auch ein Schlag auf den Kehlkopf hätte Rudi R. töten können. Ein Unfall als auch ein Selbstmord sei auszuschließen. Zugegeben, die Position der Leiche im Fahrzeug war ungewöhnlich. Diese kniete auf dem Beifahrersitz, der Automatikhebel habe auf “P” gestanden und der Zündschlüssel sei nicht auffindbar. Hier wäre aber zu berücksichtigen, dass die Leiche zum einen sehr lange in Wasser lag und bei der Bergung des Wagens Bewegungen ausgesetzt war. Und wer einen Wagen ins Wasser schieben will, erschwert sich dies doch nicht, indem er die Automatik auf Parken stellt. Zum anderen soll Rudi R. hochverschuldet, am Abend seines Verschwindens nach 8 Bier von einer Kneipe noch nach Hause gefahren sein.
Im Rahmen der Prüfung einer Wiederaufnahme soll das Gericht vom Standpunkt des ursprünglich erkennenden Gerichts her prüfen, ob dessen Urteil bei Berücksichtigung neuer Beweise anders ausgefallen wäre. Das hat das Landgericht Landshut hier aber offensichtlich unterlassen, stattdessen alternative Tötungsvarianten quasi ins Blaue hinein angenommen. Es gibt einen Toten, der zwar nicht wie zunächst festgestellt, dann aber eben auf andere Art und Weise umgebracht worden ist. Diese Art und Weise muss aber in einer neuen Hauptverhandlung festgestellt werden, den Beschuldigten muss Gelegenheit gegeben werden, sich dagegen zu verteidigen. Alles andere ist Spekulation und verfassungsrechtlich nicht haltbar (vgl. BVerfG, 2 BvR 93/07 vom 16.5.2007, Absatz-Nr 40 und 57).
Am 12. November 2009 wurde Hermine R. aus der Haft entlassen. Nicht aber, weil plötzlich der angeblich getötete Ehemann – zwar tot aber doch im Stück – wieder aufgetaucht war, sondern nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe und nachdem prognostisch von ihr keine Gefahr mehr ausgehe. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die beiden Töchter – zu Jugendstrafen von zweieinhalb und dreieinhalb Jahren verurteilt, da sie die angebliche Tat nicht verhindert und den E. noch dabei angefeuert haben sollen – waren schon länger auf freiem Fuß. Einzig der angebliche Haupttäter, Matthias E. sitzt noch in Haft.
Das Landgericht Landshut hat mit seiner Entscheidung das Vertrauen in den Grundsatz, dass jeder einen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren hat, auf eine sehr harte Probe gestellt. Die Geständnisse aller Beteiligten, die keine Möglichkeit hatten, sich abzusprechen, waren nachweislich falsch. Über die Umstände unter denen diese Geständnisse zustanden gekommen sind, mag man sich lieber keine Gedanken machen. Das würde das Wunschbild einer die Rechte von Beschuldigten stets wahrenden Polizei nachhaltig stören.
Es mag sein, dass anstelle eines Unfalls oder Suizids, tatsächlich ein Fremdverschulden zum Tod von Rudi R. geführt hat. Dies, die Umstände und das Maß an Schuld festzustellen, ist aber einer neuen Hauptverhandlung vorbehalten. Ein krampfhaftes Festhalten an einem falschen Urteil frei nach dem Motto „Tot ist tot, wie ist uns egal“, steht der Justiz nicht gut zu Gesicht. Die Rechtsanwältin Regina Rick, die eine der Töchter verteidigt, brachte es mit einem Satz auf den Punkt: „Die Gründe für eine Wiederaufnahme liegen mit der unversehrten Leiche bereits auf dem Tisch“. Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts Landshut zum Oberlandesgericht München ist eingelegt und das ist gut so.
Quellen:
SPON vom 16.06.2009: Bauer Rudi, ein grausiger Mord und das falsche Geständnis
SPON vom 26.11.2009: Julia Jüttner, Im Zweifel gegen die Angeklagten
FAZ.de: Martin Wittmann, Der Rudi ist wieder da
Sueddeutsche.de vom 20.11.2009: Kein Prozess um Bauer Rupp
sowie Prof. Dr. Henning Ernst Müller im Beck-Blog mit zahlreichen Quellennachweisen und interessanten Kommentaren
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Telepolis vom 25.11.2009: Peter Mühlbauer, Wege der Geständnisfindung