LG Karlsruhe – Mitverschulden trotz Vorfahrt bei Verstoss gegen das Rechtsfahrgebot


Die Ehefrau des Klägers wollte mit dessen Pkw nach rechts in eine Straße einbiegen. Von dort kam ihr das bei der Beklagten haftpflichtversicherte Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 30 km/h und einem Abstand zum rechten Fahrbahnrand von mindestens 1,50 m entgegen. Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeuges unternahm eine Vollbremsung, wobei er auf der feuchten Straße ins Rutschen kam. Es kam zur Kollision im Einmündungsbereich.
An der Unfallstelle, einer T-Kreuzung, gilt die Vorfahrtsregelung rechts vor links. Verkehrsteilnehmer aus der Fahrtrichtung des entgegenkommenden Fahrzeuges sind vorfahrtsberechtigt gegenüber solchen aus der Fahrtrichtung der Ehefrau des Klägers. Die Einsicht in die vorfahrtberechtigte Straße wurde für diese durch einen Bretterzaun erheblich erschwert. Für Verkehrsteilnehmer aus ihrer Fahrtrichtung ist deshalb ein Verkehrsspiegel angebracht. Der Kläger machte seine Schadensersatzansprüche aus dem Verkehrsunfall gegen die Beklagte geltend. Das Landgericht Karlsruhe gab der Klage nur teilweise Recht und verurteilte die Beklagte, dem Kläger 1/3 seines Schadens zu ersetzen. Da der entgegenkommende Fahrer, auch wenn er vorfahrtsberechtigt war, in unfallursächlicher Weise nicht unerheblich gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen hat, rechtfertigt dies seine Mithaftung.

Aus den Gründen:

(…) Nach der gebotenen Abwägung der gegenseitigen Verursachung- und Verschuldensbeiträge ist es gerechtfertigt, dass die Beklagte dem Kläger 1/3 seines unfallbedingten Schadens ersetzt. (…) Bei der Abwägung nach § 17 StVG ist (…) eine erhöhte Betriebsgefahr unter Berücksichtigung von § 1 Abs. 2 StVO zu Lasten der Beklagten zu berücksichtigen, denn der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot erhöht die Gefahr von Zusammenstößen im Anwendungsbereich typischerweise, wenn auch in diesen Fällen ein Verschulden nicht anzulasten sein mag (OLG Köln, Schaden-Praxis 1998, 273, 274; OLG Köln, NZV 1991, 421; OLG Köln, NZV 1989, 437; OLGR Köln 1997, 310, 311; OLG Oldenburg, Schaden-Praxis, 2002, 227; OLG Hamm, NZV 1998, 26; OLG Frankfurt, NZV 1990, 472; OLG Jena, PAR 2000, 570, 571; vgl. auch: KG Berlin, Urteil vom 15.01.1996, Az. 12 U 304/95, zitiert nach Juris). Ausgehend davon hat sich die Fahrweise des Zeugen C. betriebsgefahrerhöhend ausgewirkt. Er (…) nicht äußerst rechts gefahren, sondern mit einem Abstand von ca. 1,5 m zum rechten Fahrbahnrand hin. Bei Einhaltung eines Seitenabstandes von ca. einem 3/4 m – 50 cm zum rechten Fahrbahnrand hin hätte er die Kollision (…) vermeiden können. (…)

Dagegen muss sich der Kläger einen schuldhaften Verstoß seiner Ehefrau gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO zurechnen lassen. Da sie von rechts kam und die Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist, hatte für sie der von rechts kommende Verkehr die Vorfahrt, § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO. Diese Vorfahrtsberechtigung gilt bei gefährdender oder behindernder Annäherung der Fahrlinie der Fahrzeuge außerhalb des Kreuzungsbereichs, solange das Verhalten des Wartepflichtigen noch unmittelbar einwirkt. Die Wartepflicht gilt nicht nur für die Kreuzungsfläche, sondern darüber hinaus bis zur vollständigen Einordnung des Wartepflichtigen auf der Vorfahrtstraße. Erst mit richtiger Eingliederung in den Querverkehr ist die Wartepflicht erfüllt. Nach dem unstreitigen Sachverhalt (…) kam es vorliegend noch unmittelbar im Einmündungsbereich zum Zusammenstoß. Die Wartepflicht besteht indessen nur gegenüber sichtbaren Berechtigten, also nicht solchen gegenüber, die aufgrund des Straßenverlaufs noch nicht erkennbar sind. Aus den Lichtbildern und den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. K. folgt indessen, dass die Ehefrau des Klägers bei einem ihr gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 im Hinblick auf die Sichtverhältnisse gebotenen vorsichtigen Hineintasten in die Einmündung die Möglichkeit gehabt hätte, hinreichend eine Übersicht zu gewinnen und rechtzeitig das vom Zeugen C. geführte Fahrzeug zu erkennen. Danach ist von einer Vorfahrtpflichtverletzung der Ehefrau des Klägers auszugehen, bei der regelmäßig – wie auch hier – der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung des Wartepflichtigen spricht (KG Berlin, NZV 2006, 202, 203; KG Berlin, Urteil vom 15.01.1996, Az. 12 O 304/95, zitiert nach juris; Urteil vom 25.04.1996, Az. 12 O 1631/95, zitiert nach juris; OLG Köln, NZV 1989, 437; OLG Köln 1997, 310, 311; OLG Oldenburg, Schaden-Praxis 2002, 227; OLG Karlsruhe, RuS 2002, 280, 281; OLG Hamm, NZV 1998, 26; OLG Frankfurt, NZV 1990, 472; OLG Karlsruhe, VersR 1977, 673). Vortasten bedeutet dabei zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 8 StVG Rn. 58 m. w. N.). Entweder hat die Ehefrau des Klägers sich nicht entsprechend vorgetastet (…), oder sie hat das herannahende Fahrzeug des Zeugen C. zunächst schlicht übersehen. Beides begründet einen schuldhaften Vorfahrtspflichtverstoß und ist im Übrigen keinesfalls geeignet, den gegen sie sprechenden Beweis des ersten Anscheins zu entkräften. (…)

Dass der Zeuge C. die vorfahrtsberechtigte Straße unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot befahren hat, ändert an seinem grundsätzlichen Vorfahrtsrecht nicht. Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Vorfahrtstraße und geht dem Berechtigten auch dann nicht verloren, wenn er die für ihn linke Fahrbahn befährt (KG Berlin, NZV 2006, 202, 203 m. w. N.; OLG Jena, a. a. O.). Der Zeuge C. hat sein Vorfahrtsrecht auch nicht durch die im Übrigen allenfalls geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung, deren Unfallursächlichkeit im Übrigen nach dem oben Gesagten nicht nachgewiesen ist, verloren (Jagusch/Hentschel a. a. O., § 8 StVO Rn. 51/52 m. w. N.).

Die nach § 17 StVG vorzunehmende Abwägung rechtfertigt es, dass der Kläger 1/3 seines unfallbedingten Schadens von der Beklagten ersetzt verlangen kann. Bei der Abwägung ist nach dem oben Gesagten zu berücksichtigen, dass dem Zeugen C. ein unfallursächliches schuldhaftes Verhalten nicht nachgewiesen ist. In Ansatz zu bringen ist jedoch zu Lasten der Beklagten eine erhöhte Betriebsgefahr, weil der Zeuge nicht scharf rechts gefahren ist. Anders als die bloße Betriebsgefahr tritt die erhöhte Betriebsgefahr bei der Abwägung nach § 17 StVG gegenüber dem Verschulden der Ehefrau des Klägers, die gegen die Wartepflicht verstoßen hat, nicht völlig zurück. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die Gefahr von Zusammenstößen im Kreuzungsbereich typischerweise erheblich erhöht (vergl. OLG Köln, NZV 1991, 429; OLG Köln, Schaden-Praxis 1998, 273, 274; OLG Köln, NZV 1989, 437; OLG Köln 1997, 310, 311; LG Bonn, NJWE-VHR 1997, 274, 275; OLG Oldenburg, Schaden-Praxis 2002, 227; KG Berlin, Urteil vom 15.01.1996, Az. 12 U 304/95, zitiert nach juris, OLG Jena, DAR 2000, 570, 571; LG Frankfurt, Schaden-Praxis 2005, 223, 224; a. A. OLG Karlsruhe, VersR 1977, 673; vgl. auch OLG Hamm, NZV 1998, 26; OLG Frankfurt, NZV 1990, 472). Das Gericht hält es vorliegend nach eingehender Überprüfung der einschlägigen, stark divergierenden Rechtsprechung (zwischen 0 % und 60 % Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten, vergl. auch die Nachweise bei Jagusch/Hentschel, a.a.O., § 8 StvO RN. 70) unter Abwägung der o. g. Verursachungs- und Verschuldensbeiträge für angemessen, dem Kläger in Abweichung der Verfügung vom 22.12.2006 einen Ersatzanspruch hinsichtlich 1/3 seines unfallbedingten Schadens zuzubilligen.

LG Karlsruhe Urteil vom 16.2.2007, 3 O 285/06

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