EuGH – Nichtanerkennung einer EU-Fahrerlaubnis nur zulässig, wenn diese während einer Sperrfrist erteilt wurde oder bei fehlendem Wohnsitz im Ausstellerland


In der Frage der Anerkennung von EU-Führerscheinen, die im Wege des sog. sog. „Führerscheintourismus“ erworben werden, zeichnete sich nach den Schlussanträgen des Generalanwaltes Yves Bot vom 14.02.2008 eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ab.
Nun hat der EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-329/06 und C-343/06 sowie C-334/06 bis C-336/06 entschieden, dass Deutschland die Anerkennung tschechischer Führerscheine, die deutschen Staatsangehörigen nach Entzug einer deutschen Fahrerlaubnis ausgestellt wurden, nur verweigern kann, wenn diese während laufender Sperrfrist erteilt wurden oder wenn sich ergibt, dass zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins kein ordentlicher Wohnsitz in der Tschechischen Republik bestand.

Zum besseren Verständnis: Personen, denen die Fahrerlaubnis nach deutschem Recht entzogen wurde und die sich zur Neuerteilung einer Eignungsprüfung (MPU) unterziehen müssten, erwerben häufig einen in einem europäischen Land ausgestellten Führerschein. Die in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig erteilten Führerscheine sind in ganz Europa gültig. Der EuGH hatte in mehreren Entscheidungen bislang eine Überprüfungskompetenz der deutschen Behörden für nach dem Entzug erteilte EU-Führerscheine strikt abgelehnt.

In seinem Urteil vom 29. April 2004, C-476/01 (Kapper) hatte der EuGH festgestellt, dass ein erteilter Führerschein aus einem EU -Mitgliedstaat im Aufnahmestaat selbst dann anerkannt werden muss, wenn gegen die Wohnsitzregel offensichtlich verstoßen wurde. Die Verwaltungsbehörden in Deutschland ignorierten diese Entscheidung weitestgehend und untersagten bei nicht fristgerechter Beibringung eines MPU-Gutachtens den Gebrauch des ausländischen Führerscheins. In den überwiegenden Fällen wurde diese Vorgehensweise von den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten bestätigt.

Mit Urteil vom 6. April 2006, C-227/05 (Halbritter) entschied der EuGH dann, dass die Gültigkeit eines in Österreich rechtmäßig erworbenen Führerscheins nach Ablauf der Sperrfrist von der deutschen Fahrerlaubnisbehörde nachträglich nicht in Frage gestellt werden darf und der Führerschein auf Antrag des Bewerbers ohne weitere Auflagen in eine gültige deutsche Fahrerlaubnis umgeschrieben werden muss. Diese Entscheidung konnte in ihrer Klarstellung nicht ignoriert werden, so dass deutsche Verwaltungsbehörden dazu übergingen, die Berufung auf Gemeinschaftsrecht generell zu untersagen, wenn offensichtlich falsche oder unvollständige Angaben im Ausstellerstaat zum Grund der Entziehung gemacht wurden und demzufolge die Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis durch die ausländische Behörden unzureichend war. Auch diese Vorgehensweise wird von den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten weitestgehend gestützt.

Nachdem das Verwaltungsgericht Sigmaringen und das Verwaltungsgericht Chemnitz dem EuGH jeweils die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt haben, ob die Verpflichtung der Anerkennung auch bei offensichtlichen Missbrauchfällen gelte, hat der Generalanwalt am EuGH Yves Bot am 14.02.2008 in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen, festzustellen, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins verweigern kann, wenn einer Person in diesem Mitgliedstaat die Fahrerlaubnis wegen Fahrens unter Alkohol- oder Drogeneinfluss entzogen wurde und die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis vom Bestehen eines medizinisch-psychologischen Tests abhängig gemacht wurde, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat kein vergleichbarer Test durchgeführt wurde, sowie dem Mitgliedstaat zu erlauben, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, wie die Aussetzung der in dem anderen Mitgliedsstaat erworbenen Fahrerlaubnis für den Zeitraum der Prüfung einer Neuerteilung.

Dem Schlussantrag des Generalanwalts folgte der EuGH überraschenderweise nicht in Gänze. Der EuGH stellte klar, dass eine Fahrerlaubnis aus einem anderen Mitgliedsstaat dann nicht anerkannt werden müsse, wenn diese während einer Sperrfrist erteilt wurde. Für die Fälle, in denen die Erteilung der Fahrerlaubnis außerhalb einer Sperrfrist erfolgt, kommt allein dem Erfordernis des ordentlichen Wohnsitzes (für mindestens 185 Tage im Ausstellerland) besondere Bedeutung zu. Eine Fahrerlaubnis, die unter Missachtung des Wohnsitzerfordernisses erteilt wurde, müsse daher von einem anderen Mitgliedsstaat nicht anerkannt werden.

In der Pressemitteilung des EuGH vom 26.06.2008 (PDF) heißt es:

Nach einer Gemeinschaftsrichtlinie (Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 (ABl. L 284, S. 1) geänderten Fassung) erkennen die Mitgliedstaaten die von ihnen ausgestellten Führerscheine gegenseitig an.

Nach dieser Richtlinie muss der Inhaber einer Fahrerlaubnis bei deren Erteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats haben, der sie erteilt. Außerdem muss der Inhaber eine Prüfung bestimmter Fähigkeiten und Verhaltensweisen und eine Prüfung bestimmter Kenntnisse ablegen sowie bestimmte gesundheitliche Anforderungen erfüllen. Wurde eine Fahrerlaubnis in Deutschland entzogen, wird das Recht, von einem Führerschein Gebrauch zu machen, den ein anderer Mitgliedstaat ausgestellt hat, auf dessen Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung nicht mehr bestehen.

Mehrere deutsche Staatsangehörige, denen die deutschen Behörden die Fahrerlaubnis wegen Fahrens unter Alkohol- oder Drogeneinfluss entzogen hatten, begaben sich 2004 und 2005 in die Tschechische Republik, um sich dort tschechische Führerscheine ausstellen zu lassen. Zum Zeitpunkt der Ausstellung ihrer tschechischen Führerscheine hatten sie, wie sich aus den Angaben in diesen Führerscheinen ergibt, ihren Wohnsitz in Deutschland. Die betreffenden Personen waren in Deutschland nicht mehr mit einer Sperrfrist belegt, waren aber nicht in der Lage, eine zusätzliche im deutschen Recht vorgeschriebene Voraussetzung für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis zu erfüllen: Personen, denen die Fahrerlaubnis wegen Fahrens unter Alkohol- oder Drogeneinfluss entzogen wurde, müssen bei der zuständigen Behörde ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen, um nachzuweisen, dass die Gründe für den Entzug nicht mehr vorliegen.

Da die betroffenen Fahrer ein solches Sachverständigengutachten nicht beibrachten, entzogen die deutschen Behörden ihnen das Recht, von ihren tschechischen Führerscheinen in Deutschland Gebrauch zu machen. Diese Bescheide wurden vor den deutschen Gerichten, denen die Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Bescheide obliegt, angefochten. Diese Gerichte fragen den Gerichtshof danach, in welchem Umfang die Mitgliedstaaten befugt sind, es abzulehnen, in ihrem Hoheitsgebiet die von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine anzuerkennen.

In seinen Urteilen vom 26.06.2008 – C329/06 und C343/06 (Volltext); C334/06 bis C336/06 (Volltext) – stellt der Gerichtshof fest, dass ein Mitgliedstaat generell die von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheine ohne jede vorherige Formalität anzuerkennen hat, auch wenn dieser andere Mitgliedstaat nicht dieselben Anforderungen aufstellt, wie sie im erstgenannten in Bezug auf die ärztliche Untersuchung gelten, die den Erwerb des Führerscheins ermöglicht. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats ist, zu prüfen, ob die im Gemeinschaftsrecht aufgestellten Mindestvoraussetzungen erfüllt sind. Folglich ist der Besitz als solcher eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag der Erteilung des Führerscheins diese Voraussetzungen erfüllte.

Der Gerichtshof erinnert jedoch daran, dass ein Mitgliedstaat einer Person, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine Maßnahme des Entzugs der Fahrerlaubnis in Verbindung mit einer Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis angewandt worden ist, die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat während dieser Sperrzeit ausgestellten neuen Führerscheins versagen kann. Dagegen kann ein Mitgliedstaat die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat außerhalb einer Sperrzeit ausgestellten Führerscheins nicht mit der Begründung ablehnen, dass der Inhaber dieses Führerscheins die Voraussetzungen nicht erfüllt, die nach den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem Entzug einer früheren Fahrerlaubnis vorliegen müssen, einschließlich einer Überprüfung der Fahreignung, die bestätigt, dass die Gründe für den Entzug nicht mehr vorliegen.

Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass die Mitgliedstaaten aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs ihre innerstaatlichen Vorschriften über den Entzug der Fahrerlaubnis auf jeden Inhaber eines Führerscheins anwenden können, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet hat. Diese Befugnis kann jedoch nur aufgrund eines Verhaltens des Betroffenen nach Erwerb des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ausgeübt werden. Der Gerichtshof hebt schließlich hervor, dass die Voraussetzung eines einzigen ordentlichen Wohnsitzes die Sicherheit des Straßenverkehrs gewährleistet, da sie unerlässlich ist, um die Einhaltung der Voraussetzung der Fahreignung zu überprüfen. Soweit in den vorliegenden Rechtssachen nicht anhand der von den deutschen Behörden stammenden Informationen, sondern auf der Grundlage von Angaben in den tschechischen Führerscheinen selbst oder anderen von der Tschechischen Republik herrührenden unbestreitbaren Informationen feststeht, dass die Wohnsitzvoraussetzung nicht erfüllt war, kann Deutschland es ablehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung anzuerkennen, die sich aus den fraglichen tschechischen Führerscheinen ergibt.

Praxisrelevanz:

Das Kapitel Führerscheintourismus ist nach der Entscheidung des EuGH vorerst noch nicht ganz abgeschlossen. Der EuGH stellt klar, dass nach Ablauf einer Sperrfrist ein Führerschein im europäischen Ausland erworden werden kann, wobei „erwerben“ hier wörtlich zu verstehen ist, ohne dass eine Anerkennung im sog. Aufnahmestaat davon abhängig gemacht werden darf, dass der Inhaber dieses ausländischen Führerscheins z.B. eine MPU nachweist. Allein der Wohnsitz zum Zeitpunkt der Ausstellung des ausländischen Führerscheins im Ausstellerstaat ist ausschlaggebend. Wenn ein Aufnahmestaat Zweifel hegt, so hat er dies dem Ausstellerstaat mitzuteilen und muss nachfragen. Wie diese Nachprüfung sich gestalten wird und wie verlässlich die Auskünfte sind, wird sich zeigen. Aktuell jedenfalls ist die Praxis deutscher Verwaltungsbehörden sowie die Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte, die Anerkennung ausländischer Führerscheine zu versagen und deren Gebrauch für die Dauer der Prüfung, ob ein deutscher Führerschein erteilt wird, demnach bis zur Vorlage eines positiven MPU-Gutachtens zu untersagen, mit der Rechtsprechung des EuGH wieder einmal nicht in Einklang zu bringen.

Spätestens mit der Umsetzung der europäischen dritten Führerscheinrichtlinie (Richtlinie 2006/126/EG vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein – PDF) wird der Führerscheintourismus dann aber wohl ein Ende finden. Die neue Richtlinie ist seit dem 19.01.2007 in Kraft und löst die Richtlinie 91/439/EWG vom 29. Juli 1991 und ihre zahlreichen Änderungen ab. Die alte Richtlinie 91/439/EWG gilt zunächst weiter (vgl. Art. 17 Richtlinie 2006/126/EG) und wird zum 19. 01. 2013 endgültig aufgehoben. Ziel des Gesetzgebungsverfahrens bei der Neufassung der europäischen Führerscheinrichtlinie war es vor allem, den Führerscheintourismus zu bekämpfen. Mit dieser Zielrichtung wurden entsprechende Regelungen neu gefasst bzw. geschaffen (vgl. Art. 7 Abs. 5 und Art. 11 Abs. 4 Richtlinie 2006/126/EG). Danach kann ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ablehnen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein in seinem Hoheitsgebiet entzogen ist. Die Richtlinie muss spätestens bis zum 19. Januar 2013 von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden (vgl. Art. 16, Art. 18 Abs. 2 Richtlinie 2006/126/EG). In Deutschland ist die Umsetzung für 2009 vorgesehen. Alle bis dahin ausgestellten Führerscheine genießen Bestandsschutz (vgl. Art. 13 Abs. 2 und Art.16 Abs. 2 Richtlinie 2006/126/EG), wenn die Verwaltungsbehörden deren Anerkennung nicht weiterhin entgegen der aktuellen Entscheidung des EuGH verweigern.

Quellen:
Pressemitteilung des EuGH vom 26.06.2008 (PDF)
Schlussvortrag vom 14.02.2008
EuGH – Verbundene Rechtssachen C-329/06, C-343/06
EuGH – Verbundene Rechtssachen C-334/06, C-335/06, C-336/06

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