LG Berlin – Eintragung von nur 3 Punkten rechtfertigt für den Verteidiger keine Abrechnung der Mittelgebühr


Gegen unseren Mandanten war nach einem Verkehrsunfall zügig ein Bußgeldbescheid wegen angeblicher Vorfahrtsmissachtung erlassen worden. Neben der zu zahlenden Geldbuße von 60 Euro, wären bei Rechtskraft 3 Punkte im Verkehrszentralregister eingetragen worden. Nach Akteneinsicht, eigener Nachermittlung und einer Stellungnahme, wonach ein Vorfahrtsverstoss nicht vorlag, wurde das Verfahren auf Kosten der Verwaltungsbehörde eingestellt.

Die unserem Mandanten entstandenen Auslagen in Form unserer Gebührenrechnung wurden daraufhin der Behörde mitgeteilt und beantragt, diese festzusetzen (§106 OWiG). Bei der Gebührenberechnung wurde jeweils die sogenannte Mittelgebühr angesetzt, wie dies bei durchschnittlichen Angelegenheit üblich und auch angemessen ist. Wie nicht anders zu erwarten, setzte die Behörde geringere Gebühren fest. Die beantragten Auslagen wurden nur zu einem Drittel erstattet, da nach Ansicht der Behörde die Angelegenheit für unseren Mandanten angesichts des geringen Bußgeldes und der Eintragung von nur 3 Punkten unterdurchschnittlich war. In Ordnungswidrigkeitenverfahren entsprächen Mittelgebühren in der Regel nicht dem billigen Ermessen. Vielmehr sei wegen der Spannweite der Gebühren nur eine wesentlich darunter liegende Gebühr rechtfertigt. Die Eintragung von Punkten im Verkehrszentralregister sei überwiegende Folge von Verkehrsverstößen und rechtfertige keine Vergütungserhöhung. Die hiergegen beantragte gerichtliche Entscheidung nach § 108 OWiG wurde umfangreich begründet, vom AG Tiergarten allerdings auf einer halben Seite als unbegründet verworfen. Die Kostenfestsetzung entspräche ständiger Rechtsprechung der Abteilung und auch des Landgerichts Berlin. Das Landgericht Berlin bestätigte auf die eingelegte sofortige Beschwerde dann tatsächlich auf einer viertel Seite die Entscheidung und wir sind wieder einmal etwas schlauer.

In Berlin legt demnach nicht der Verteidiger die Gebühren in eigenem Ermessen fest, sondern die Bußgeldstelle. Anders als die Amts- und auch Landgerichte im übrigen Teil Deutschlands, ist das AG Tiergarten und auch das Landgericht Berlin der Meinung, dass 60 Euro und 3 Punkte in Flensburg kein Beinbruch sind. Wenn der Betroffene meint, hierfür einen Verteidiger einschalten zu müssen, soll er dessen „überzogenen“ Gebühren gefälligst selbst zahlen, auch wenn der den schlampig ermittelten Ordnungswidrigkeitenvorwurf aus der Welt schafft.

LG Berlin, Beschluss vom 02.06.2008, Az: 515 Qs 92/08 (PDF)
Vorinstanz: AG Tiergarten, Beschluss vom 02.05.2008, Az: 297 OWi 420/08 (PDF)

Praxisrelevanz:

Ein Rechtsanwalt rechnet seine Tätigkeit nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) ab. Bei der Verteidigung in einem Bußgeldverfahren ergibt sich die Vergütung des Rechtsanwalts aus Teil 5 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV). Wie im Strafverfahren kann der Rechtsanwalt innerhalb eines Gebührenrahmens, abhängig von der Höhe des drohenden Bußgeldes, seine Gebühren unter Berücksichtigung aller Umstände des § 14 RVG, u.a. der Bedeutung der Angelegenheit und des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, nach freien Ermessen festlegen.

Im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren ist davon auszugehen, dass grds. der Ansatz der sogenannten Mittelgebühr gerechtfertigt und davon bei der Bemessung der konkreten Gebühr auszugehen ist (s. auch BURHOFF, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 2. Aufl., Vorbem. 5 VV RVG Rn. 39 ff.; AnwKom-RVG/N. SCHNEIDER, Vor Teil 5 VV RVG Rn. 51 ff.; JUNGBAUER DAR 2007, 56 ff.; HANSENS RVGreport 2006, 210; LEIPOLD, Anwaltsvergütung in Strafsachen, Rn. 495; s. dazu auch LG Stralsund zfs 2006, 407 [LG Stralsund 25.01.2006 – 26 Qs 137/05]; AG Altenburg RVGreport 2006; 182,AG Chemnitz AGS 2006, 113; AG Darmstadt AGS 2006, 212 [AG Darmstadt 27.06.2005 – 305 C 421/04] = zfs 2006, 169; AG Frankenthal RVGreport 2005, 271 [AG Frankenthal 29.04.2005 – 5189 Js 16685/04 1 OWi] = VRR 2005, 280 = AGS 2005, 292, das die Mittelgebühr zumindest immer dann gewähren will, wenn es im Verfahren um die Verhängung eines Fahrverbotes geht oder dem Betroffenen Punkte im VZR drohen (AG München RVGreport 2005, 381 = AGS 2005, 430; AG Pinneberg AGS 2005, 552 [AG Pinneberg 05.09.2005 – 31 OWi 306 Js 3673/05 34/05]; AG Saarbrücken RVGreport 2006, 181 [AG Saarbrücken 21.10.2005 – 42 C 192/05] = AGS 2006, 126; AG Saarlouis RVGreport 2006, 182 [AG Saarlouis 07.10.2005 – 30 C 861/05] = AGS 2006, 126; AG Viechtach RVGreport 2006, 341).

Für den im Regelfall zulässigen Ansatz der Mittelgebühr spricht zunächst schon die vom RVG vorgenommene Dreiteilung der Gebühren. Wenn der Gesetzgeber zur Begründung dieser Dreiteilung der Gebühren in Bußgeldsachen nämlich u.a. darauf abstellt (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 230), dass gerade die bei 40 EUR liegende Punktegrenze für Eintragungen in das Verkehrszentralregister Anknüpfungspunkt für den bis dahin niedrigeren Betragsrahmen der Anwaltsgebühren ist, zeigt das sehr deutlich, dass darüber hinaus der Umstand „verkehrsrechtliche Bußgeldsache“ nicht noch zusätzlich zum Anlass genommen werden darf, die konkrete Gebühr in diesen Verfahren niedriger zu bemessen. Zudem lässt sich dem RVG an keiner Stelle entnehmen, dass die Vergütung des Rechtsanwaltes in Bußgeldsachen – über die geschaffene Stufenregelung hinaus – zusätzlich noch weiter über die Geldbuße von dem Gegenstand des Verfahrens, in dem der Rechtsanwalt tätig wird, abhängig sein soll (JUNGBAUER DAR 2007, 56; ähnlich AG Viechtach, Beschl. v. 4.4.2007 – 6 II OWi 00467/07). Es ist zudem auch ein Trugschluss, dass straßenverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren vom Rechtsanwalt grds. geringeren Aufwand erfordern (so auch JUNGBAUER DAR 2007, 56; a.A. PFEIFFER DAR 2006, 653) und für den Mandanten geringere Bedeutung haben.

Gerade auch im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren ist es unzulässig, wenn zur Bemessung der konkreten Gebühr über das in § 14 RVG genannte Kriterium der „Bedeutung der Sache“ maßgeblich an die Höhe der Geldbuße angeknüpft wird (allgemein zur Gebührenbemessung in OWi-Verfahren s. BURHOFF RVGreport 2005, 361). Diese ist bereits Grundlage für die Wahl der jeweiligen Stufe des Teils 5 VV RVG, nach der sich im OWi-Verfahren die anwaltlichen Gebühren berechnen. Die Höhe der Geldbuße darf dann nicht noch einmal herangezogen werden, um innerhalb des Gebührenrahmens die Gebühr (ggf. noch weiter) abzusenken (so auch bereits BURHOFF, a.a.O.; DERS. VRR 2006, 333 [BGH 30.11.2005 – IV ZR 154/04]; HANSENS RVGreport 2006, 210; a.A. LG Deggendorf RVGreport 2006, 341 [entscheidender Anknüpfungspunkt]).

Das gilt gerade und vor allem auch für die verkehrsrechtlichen Sachen, bei denen die Stufe 2 – Geldbuße von 40 – 5.000 EUR – gilt. Allein mit diesem weiten Rahmen und der nur geringen Höhe der Geldbuße lässt sich nicht begründen, dass die i.d.R. geringeren Geldbußen für Verkehrsordnungswidrigkeiten dazu führen, dass in diesen Sachen grds. nicht die Mittelgebühr gerechtfertigt ist. Dabei wird nämlich übersehen, dass gerade in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen die Mehrzahl der Geldbußen im unteren Bereich festgesetzt werden, es sich also insoweit um die durchschnittlichen Fälle handelt (s. auch AnwKom-RVG/N. SCHNEIDER, Vor Teil 5 VV RVG Rn. 52 ff.; JUNGBAUER DAR 2007, 56; AG Fürstenwalde, Beschl. v. 24.10.2006 – 3 Jug OWi 291 Js-OWi 40513/05 [26/05]). Alles andere verschiebt und verkennt auch im Bereich des straßenverkehrsrechtlichen OWi-Rechts das Gesamtgefüge.

Die Mittelgebühr ist grundsätzlich dann zu erstatten, wenn es sich um eine durchschnittliche Angelegenheit handelt. Sie soll gelten und damit zur konkreten billigen Gebühr in den „Normalfällen“ werden, d. h. in den Fällen, in denen sämtliche, vor allem die nach § 14 Abs. 1 RVG zu berücksichtigenden Umstände durchschnittlicher Art sind, also übliche Bedeutung der Angelegenheit, durchschnittlicher Umfang und durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, wirtschaftliche Verhältnisse des Auftraggebers, die dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprechen (GEROLD/ SCHMIDT/ V. EICKEN/MADERT/MÜLLER-RABE, RVG Kommentar, 16. Auflage, 2004, § 14 RVG, Rdnr. 29).

Die (amtsgerichtliche) Rechtsprechung stellt zu Recht auf die Gesamtumstände des Einzelfalles ab (LG Kiel zfs 2007, 106 m. zust. Anm. HANSENS; AG Saarbrücken, Urt. v. 19.5.2006 – 42 C 377/05 [allein zutreffende Auslegung]; AG Viechtach RVGreport 2005, 420 [AG Viechtach 09.09.2005 – 7 II OWI 971/05] = AGS 2006, 239; Beschl. v. 4.4.2007 – 6 II OWi 00467/07; s. auch z.B. JUNGBAUER DAR 2007, 56) und berücksichtigt deren Gewicht im Einzelnen. Bei der Bewertung der Bedeutung der Angelegenheit ist auf die individuelle Bedeutung für den Mandanten abzustellen (HARTUNG/RÖMERMANN , RVG, § 14 Rn. 31). Die Bedeutung für den Verteidiger ist ebenso unerheblich wie die Bedeutung für die Allgemeinheit bzw. die Landeskasse.

Bei dem Verfahren gegen unseren Mandanten handelte es sich zwar nur um einen durchschnittlichen Vorwurf einer Vorfahrtsmissachtung und einen daraus resultierenden Unfall mit Personenschaden, der neben dem Regelsatz allerdings für den unbelasteten Betroffenen die Eintragung von 3 Punkten im VZR zur Folge gehabt hätte. Insbesondere wenn ein Eintrag von mehr als zwei Punkten in Betracht kommt, liegt eine hohe Bedeutung für den Betroffenen vor, so dass sogar eine erhöhte Gebühr zu veranschlagen sein könnte (vgl. insb. LG Gera Juristisches Büro 2000, 581; LG Potsdam MDR 2000, 581 [LG Potsdam 25.01.2000 – 24 Qs 175/99] sowie LG Wuppertal zfs 2005, 39 (ein drohender Punkt); vgl. dazu auch AG Altenburg RVGreport 2006, 182 [AG Altenburg 29.06.2005 – 1 C 262/05] = AGS 2006, 128 (zwei Punkte); AG Frankenthal RVGreport 2006, 271 = AGS 2005, 292; AG Fürstenwalde, Beschl. v. 24.10.2006 – 3 Jug OWi 291 Js-OWi 40513/05 (26/05) (ein Punkt durchschnittlich); AG Pinneberg AGS 2005, 552 [AG Pinneberg 05.09.2005 – 31 OWi 306 Js 3673/05 34/05]; AG Rotenburg AGS 2006, 288; AG Saarlouis RVGreport 2006, 182 [AG Saarlouis 07.10.2005 – 30 C 861/05] = AGS 2006, 127).

Dem gegenüber steht die „sehr überzeugend begründete“ Entscheidung eines Amtsrichters beim AG Tiergarten und die Bestätigung durch die 15. Strafkammer (Kammer für Bußgeldsachen) beim Landgericht Berlin.

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