Kammergericht – ein Radfahrer, der einen anfahrenden Linienbus überholt, bekommt bei einem Unfall keinen Schadenersatz


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Berliner Radfahrer leben gefährlich, was einige aber auch durch halsbrecherische Fahrweise geradezu provozieren. Ein Radfahrer hielt es für eine gute Idee, mit seinem Rennrad  einen anfahrenden „Gelben“ der Berliner Verkehrsbetriebe noch zu überholen, um dann knapp vor den Bus einzuscheren. Es kam zur Kollision, der Radfahrer stürzte und wollte Schadenersatz und Schmerzensgeld.

Das Landgericht Berlin sah kein Verschulden des Busfahrers und wies die Klage ab. Anders als beim Anfahren vom Fahrbahnrand eines herkömmlichen Fahrzeugs, spricht gegen einen Busfahrer nicht der Beweis des ersten Anscheins, dass er die erhöhten Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO missachtet habe. Für Linienbusse gilt nämlich die Sonderregelung des § 20 Abs. 5 StVO, wonach andere Fahrzeuge einem Bus das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen haben, wenn nötig, sogar warten müssen. Eine Haftung aus Betriebsgefahr tritt nach Auffassung des Landgerichts hinter dem groben Verschulden des Radfahrers beim Überholen zurück.

Der Radfahrer war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und legte Berufung ein. Allerdings ohne Erfolg. Das Kammergericht erteilte den Hinweis, dass beabsichtigt sei, die Berufung zurückzuweisen und setzte dies durch Beschluss vom 08.09.2008 auch um.

Aus dem Gründen:

(…) Zutreffend hat das Landgericht eine Haftung des Beklagten zu 2. für vom Kläger erlittene materielle und immaterielle Folgen wegen schuldhafter Herbeiführung der Kollision verneint. Ein Anscheinsbeweis gegen den Beklagten zu 2. als Einfahrenden (Verstoß gegen die Pflichten nach § 10 StVO) scheidet bereits im Ansatz aus. Die entsprechende Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis (vgl. die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. 2007, § 10 StVO, Rn. 11) beruht auf der erfahrungsgestützten Annahme, dass bei einer Kollision im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Anfahren in die Fahrbahn die Verhaltenspflichten nach § 10 StVO missachtet worden sind. Für den Fahrer eines abfahrenden Busses gelten diese strengen Sorgfaltspflichten jedoch wegen der Sonderregelung des § 20 Abs. 5 StVO nicht (so zutreffend das Landgericht, …; vgl. auch Hentschel, a.a.O., § 20 StVO, Rn. 12).

Ebensowenig steht fest, dass der Beklagte zu 2. die Kollision nach den konkreten Umständen durch Unaufmerksamkeit beim Anfahren mit dem Bus und damit unter Verstoß gegen § 10 StVO schuldhaft herbeigeführt hat, sie also bei gebotener Aufmerksamkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden hätte.
Die (…) Behauptung, er habe sich etwa in Höhe des hinteren Drittels des Busses befunden, also im Bereich zwischen Heck und Gelenk des Busses, als dieser angefahren sei, bezieht sich zwar auf ein aussagekräftiges Indiz für die Missachtung der Rückschau- und Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO durch den Beklagten zu 2., denn danach war es geboten, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, dass kein Fahrzeug neben dem Bus vorbeifuhr, und an der Erkennbarkeit des überholenden Klägers für den Beklagten zu 2. bei ordnungsgemäßer Rückschau vor dem Anfahren bestehen kaum Zweifel.

Allerdings hat der Kläger für diesen Unfallhergang nicht nur keinen Beweis angetreten. Er ist vielmehr bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht (…) davon abgerückt, indem er erklärt hat, der Bus sei ausgeschert, als er sich mit seinem Rad in Höhe des Bushecks befunden habe. (…) Außerdem ist das Landgericht in beanstandungsfreier Würdigung der Aussage des Zeugen … zu der Gewissheit gelangt, dass der Kläger sich abweichend von seinen Angaben noch eine bis anderthalb Fahrzeuglängen hinter dem Bus befunden habe und noch „richtig kräftig in die Pedale getreten„ habe, um am Bus noch vorbeizukommen. (…) Damit ist nicht festzustellen, dass der Beklagte zu 2. auch bei ordnungsgemäßer Rückschau Veranlassung hatte, die Vorbeifahrt des noch entfernten Klägers auf seinem Rad abzuwarten. Der Beklagte zu 2. hat in seiner persönlichen Anhörung angegeben, er habe den Kläger zwar im Rückspiegel gesehen; er sei aber noch so weit weg gewesen, dass er an eine Gefahrenlage nicht gedacht habe. Etwas anderes hat der Kläger nicht beweisen können.

Gleiches gilt für das Verhalten des Beklagten zu 2. im Zusammenhang mit dem Einscheren des Klägers vor den Bus nach dem Überholen (möglicher Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten nach § 1 Abs. 2 StVO). Zutreffend hat das Landgericht auf (…) die unvorhersehbare Verkürzung des Anhalteweges durch das knappe Einscheren des Klägers vor den fahrenden Bus hingewiesen. Es steht nicht fest, dass es dem Beklagten zu 2., der vor dem Landgericht nur eingeräumt hat, den Kläger im Seitenspiegel als Schatten noch gesehen zu haben und nach dem Einscheren sofort ein Bremsmanöver eingeleitet hat, möglich war, sich in dieser Lage auf das Fahrmanöver des Klägers einzustellen und unfallverhütend zu reagieren. Der beweislosen und nicht weiter erläuterten Behauptung des Klägers (…), der Beklagte zu 2. hätte den Unfall noch leicht verhindern können, wenn er sich vergewissert hätte, worum es sich bei dem vorbeifahrenden Schatten gehandelt habe, folgt der Senat nicht. Immerhin befand sich der Bus bereits in Fahrt.

Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht umgekehrt ein grobes Verschulden des Klägers am Zustandekommen der Kollision durch sein waghalsiges Überholmanöver bejaht. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger auf seinem Fahrrad überhaupt zum Überholen des Busses ansetzen durfte, muss er sich entgegenhalten lassen, dass er nach dem Verlauf des vom Landgericht zutreffend als „verunglückt“ bezeichneten Überholmanövers auf keinen Fall knapp vor dem anfahrenden Bus nach rechts einscheren durfte (§ 5 Abs. 4 Satz 4 StVO,…).

Es drängte sich auf, dass eine solche Fahrweise die akute Gefahr in sich barg, Leben und Gesundheit des Klägers sowie anderer Personen im Bus zu gefährden. Notfalls hätte er das Überholmanöver abbrechen und den Bus rechts neben ihm passieren lassen müssen. Im Verlauf des Rechtsstreits sind keine Umstände vorgetragen oder anderweitig bekannt geworden, die ein solches Fahrmanöver unmöglich gemacht hätten, etwa herannahender Gegenverkehr. Selbst dann wäre der Kläger gehalten gewesen, die Fahrbahn notfalls in Richtung der gegenüberliegenden, von ihm aus gesehen linken Straßenseite zu verlassen). In dem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen Freizeitfahrer ist und der Unfall sich am Ende einer Radtour ereignet hat (…). Um so weniger hatte er Veranlassung zu der Annahme, am anfahrenden Bus erfolgreich „vorbeisprinten„ zu können.

Auch die Abwägung der verbleibenden Gefährdungshaftung des Beklagten zu 1. gegen das grobe Verschulden des Klägers im angegriffenen Urteil ist nicht zu beanstanden. Das Argument des Klägers, bauartbedingte Schwierigkeiten bei der Rückschau aus dem Bus müssten zu einer größeren Gewichtung der Gefährdungshaftung führen, die nicht vollständig zurücktreten dürfe, überzeugt den Senat nicht. Selbst wenn dies so wäre, steht nicht fest, dass sich gerade diese Besonderheit hier unfallursächlich ausgewirkt hat. Den herannahenden Radfahrer hat sich der Beklagte zu 2. nach eigenem Bekunden gesehen, allerdings noch in der Ferne. Für die letztlich schadenstiftende Kollision beim Einscheren war die abstrakte Rückschaumöglichkeit ohne Bedeutung, denn sie hat sich vor dem Bus ereignet.

KG, Hinweisbeschluss vom 24.07.2008, Az: 12 U 142/07 (Berufung zurückgewiesen durch Beschluss vom 08.09.2008)

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