Kammergericht – Kein Anscheinsbeweis gegen Auffahrenden bei Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden


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Wer auffährt hat Schuld!“ Nach dieser allgemein verbreiteten Auffassung wäre die Schuldfrage bei Auffahrunfällen damit eindeutig geklärt und man müsste keine Gerichte mehr bemühen. Dabei gilt auch bei Auffahrunfällen im allgemeinen nur, dass gegen den Auffahrenden der sogenannte Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, dass er entweder nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO), seine Fahrgeschwindigkeit nicht der Verkehrssituation angepasst hat (§ 3 Abs. 1 StVO) oder es an der notwendigen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen (§ 1 Abs. 2 StVO).

Wer sich als Auffahrender einer Haftung ganz oder teilweise entziehen will, muss diesen Anscheinsbeweis widerlegen. Vielfach wird nach einem Unfall behauptet, der Vorausfahrende habe abrupt und ohne erkennbaren Grund gebremst, was ohne entsprechenden Nachweis nicht zur Entkräftung des Anscheinsbeweises ausreicht. In einem vor dem Landgericht Berlin geführten Rechtstreit konnte der Auffahrende den Entlastungsnachweis führen, so dass die Klage des vorausfahrenden Taxifahrers auf Ersatz seines Schadens abgewiesen wurde. Das Kammergericht bestätigte die Rechtsauffassung des Landgerichts und wies die Berufung letztlich durch Beschluss zurück.

In dem Rechtsstreit stellte sich heraus, dass der Taxifahrer erst kurz vor dem Unfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt hatte, wofür insbesondere auch eine Schrägstellung des vorausfahrenden Fahrzeugs und eine „Eckkollision“ sprach. Ein Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden griff danach nicht ein, da die Typizität eines Auffahrens im gleichgerichteten Verkehr nicht mehr gegeben war. Das Landgericht Berlin ging – bestätigt durch das Kammergericht – zu Recht davon aus, dass der klägerische Fahrer den Unfall durch seinen Fahrstreifenwechsel allein verschuldet hat, so dass der Auffahrende ihm keinen Schadenersatz leisten muss.

Aus den Gründen:

Ein (typischer Auffahrunfall, der gegen den Auffahrenden den Beweis des ersten Anscheins für dessen Verschulden begründen würde) liegt nämlich nur dann vor, wenn es aus dem gleichgerichteten Verkehr derart zu einem Anstoß kommt, dass bei Parallelität der Längsachsen der Fahrzeuge eine Kollision mit einer Teilüberdeckung der Stoßflächen an Heck und Front der beteiligten Fahrzeuge erfolgt. Hingegen liegt kein typischer Auffahrunfall mit der Folge eines Anscheinsbeweises vor, wenn eine Eckkollision bei Schrägstellung der Längsachse des Vorausfahrenden gegeben ist (st. Rspr., vgl. zuletzt Senat, Beschluss vom 4. Juni 2007, 12 U 208/06, NZV 2008, 197 = KGR 2008, 196 = VRS 113, 402).

Ist erwiesen oder sprechen erwiesene Tatsachen dafür, dass der Vorausfahrende erst wenige Augenblicke vor dem Unfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt ist, wofür insbesondere auch eine Schrägstellung des vorausfahrenden Fahrzeugs spricht, greift der Anscheinsbeweis nicht ein (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 4 StVO Rn 18; siehe auch OLG Hamm, Urteil vom 23. September 2003, 9 U 70/03, VersR 2005, 1303). Der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden setzt nämlich voraus, dass beide Fahrzeuge – unstreitig oder erwiesenermaßen – so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können (vgl. OLG Celle, VersR 1982, 960; OLG München, NZV 1989, 438; Senat, zuletzt Beschluss vom 14. Mai 2007, 12 U 194/06, VRS 113, 418 = NZV 2008, 198 = NJOZ 2008, 780). (…)

Im Falle eines unzulässigen Fahrstreifenwechsels haftet der Fahrstreifenwechsler grundsätzlich allein für die Folgen eines in diesem Zusammenhang geschehenen Verkehrsunfalls. Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten kommt nur dann in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsler Umstände nachweist, die dessen Mitverschulden belegen; allein die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Pkw rechtfertigt keine Mithaftung des anderen Verkehrsteilnehmers (KG, Urteil vom 12. Juni 2003, 22 U 134/02, KGR 2003, 272).

Nach § 7 Abs. 5 StVO verlangt jeder Fahrstreifenwechsel die Einhaltung äußerster Sorgfalt, so dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; er setzt ausreichende Rückschau voraus und ist rechtzeitig und deutlich durch Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen. Ereignet sich die Kollision zweier Fahrzeuge in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieser den Unfall unter Verstoß gegen die vorgenannten Pflichten verursacht und verschuldet hat. In der Regel haftet der Vorausfahrende bei einem sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel für die Unfallschäden allein ( Senat, Urteil vom 2. Oktober 2003, 12 U 53/02, VRS 106, 23 = KGR 2004, 106 = VM 2004, 29 Nr. 26 = VersR 2004,621 L). (…)

KG, Hinweisbeschluss vom 03.07.2008, Az: 12 U 239/07
(durch Beschluss vom 10.09.2008 wurde die Berufung dann zurückgewiesen)

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