BGH – keine Erstreckung der Revision wegen überlanger Verfahrensdauer


(c) Uwe Steinbrich / Pixelio

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Der BGH hatte seine Rechtsprechung zur Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer geändert und sich für das Vollstreckungsmodell entschieden. Anstelle der davor gewährten Strafminderung muss nun in der Urteilsformel erklärt werden, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt. Unterlässt das Gericht eine gebotene Kompensation, kann hierauf gestützt Revision eingelegt werden.

Der BGH hatte nun im Rahmen der Revision gegen ein Urteil des Landgerichts Saarbrücken über eine solche unterlassene Kompensation zu entscheiden und das Urteil aufgehoben und zu neuer Entscheidung zurück verwiesen. Allerdings hatten nicht alle der ursprünglich Angeklagten Revision eingelegt. Die spannende Frage war nun, ob sich die erfolgreiche Revision auch auf diesen Angeklagten erstreckt.
Nach § 357 StPO ist, wenn zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes erfolgt, und sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte erstreckt, die nicht Revision eingelegt haben, so zu erkennen, als ob diese gleichfalls Revision eingelegt hätten. Der Angeklagte, der hier keine Revision einlegte, hatte aber Pech. Der BGH sah für eine Anwendung des § 357 StPO keinen Raum. Die Aufhebung des Urteils erfolge nämlich nicht wegen einer Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes. Die Kompensation für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen erfolgt nicht aus einer Vorschrift des Strafgesetzbuches, sondern als Wiedergutmachung von Verfahrensunrecht.

Aus den Gründen:

(…) Für eine Erstreckung der hinsichtlich der Beschwerdeführer insoweit gebotenen Aufhebung des Urteils auf den früheren Mitangeklagten W., der keine Revision eingelegt hat, ist kein Raum. § 357 StPO findet keine Anwendung, weil die Aufhebung nicht wegen einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des Strafgesetzes erfolgt. Die Aufhebung erfolgt vielmehr, weil das Landgericht rechtsfehlerhaft von der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem so genannten Vollstreckungsmodell abgesehen hat, das sich inhaltlich an den nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1, Art. 13, Art. 34 MRK hierfür maßgeblichen Kriterien ausrichtet (vgl. BGHSt aaO S. 136 f.). Grundlage dieser von Fragen des Unrechts, der Schuld- und Strafhöhe abgekoppelten Kompensation (vgl. BGHSt aaO S. 129 und 138; BGH, Urteil vom 7. August 2008 – 3 StR 201/ 08 Rdn. 9) ist ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bzw. gegen das auch verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. Einl. Rdn. 19 m. N.), mithin die Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Sinne des § 344 Abs. 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 ARs 5/ 04; zur Abgrenzung zum materiellen Recht vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rdn. 8; Frisch in SK-StPO § 337 Rdn. 61, jew. m. w. N.). Die Verletzung solcher Normen ist aber keine Gesetzesverletzung im Sinne des § 357 StPO (vgl. Meyer-Goßner aaO § 357 Rdn. 11; Wohlers in SK-StPO § 357 Rdn. 22 m. N.).

Dass die Aufhebung hier auf die Sachrüge erfolgt und nicht auf eine, soweit es sich um Verzögerungen vor Urteilserlass handelt, grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge (vgl. BGHSt 49, 342, 343 f.; Meyer-Goßner aaO Art. 6 MRK Rdn. 9 e m. N.), führt nicht zur (analogen) Anwendung der nach allgemeiner Meinung (vgl. BGHR StPO § 357 Erstreckung 9; Kuckein in KK-StPO 6. Aufl. § 357 Rdn. 23; Wohlers aaO Rdn. 52) als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden Vorschrift des § 357 StPO. Zwar hat das Revisionsgericht auf Grund der Sachrüge einzugreifen, wenn sich – wie hier – bereits aus den Urteilsgründen ergibt, dass eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, oder wenn insoweit ein sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel gegeben ist (vgl. BGHSt 49, 342). Der sachlich-rechtliche Mangel, der in einem solchen Fall zur Aufhebung führt, liegt nach der Aufgabe der früher praktizierten Strafabschlagslösung, bei der die Anwendung des § 357 StPO in Betracht gezogen worden ist (vgl. BGH NStZ 1996, 328; BGH, Beschluss vom 11. November 2004 – 5 StR 376/ 03, insoweit in BGHSt 49, 342 nicht abgedruckt), aber nicht (auch) in einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung des materiellen Strafrechts. Durch die Kompensation nach dem so genannten Vollstreckungsmodell, die allein der Wiedergutmachung des durch die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK entstandenen objektiven Verfahrensunrechts dient, auf die der Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch hat, wird vielmehr eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, wie er in gleicher Weise einer Partei eines Zivilprozesses oder einem an einem Verwaltungsrechtsstreit beteiligten Bürger erwachsen kann (vgl. BGHSt 52, 124, 137 f.).

Eine analoge Anwendung des § 357 StPO kommt im Übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil die Frage, ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, nach den individuellen Umständen des Einzelfalles für jeden Angeklagten eigenständig zu beurteilen ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/ 08 Rdn. 14). (…)

BGH, Beschluss vom 21. 10. 2008 – 4 StR 364/08 (Lexetius.com/2008,3101)

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