OLG Oldenburg – Urteilsanforderungen bei anthropologischen Sachverständigengutachten


Der Betroffene soll auf der Autobahn zu dicht auf den Vordermann aufgefahren sein. Bei einer Geschwindigkeit von 133 km/h betrug der Abstand über eine Strecke von mindestens 41 m lediglich 25 m und damit weniger als 4/10 des halben Tachowertes. Nach Einspruch gegen den Bußgeldbescheid schwieg der Betroffene vor dem Amtsgericht Bersenbrück. Das Amtsgericht hörte daher einen anthropologischen Sachverständigen zu der Frage, ob der Betroffene der Fahrer war und verurteilte auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen den Betroffenen wegen fahrlässigen Nichteinhaltens des erforderlichen Abstandes zu einem vorausfahrenden Fahrzeug zu einer Geldbuße von 300 Euro.
Hiergegen legte der Betroffene mit Erfolg Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht Oldenburg ein. Das Urteil des Amtsgericht Bersenbrück wurde aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen, das das Amtsgericht im Urteil die festgestellten Merkmalsübereinstimmungen, die vorhandenen Abweichungen und die von dem Sachverständigen gezogene Schlussfolgerung im Hinblick auf die Einschätzung der Identitätswahrscheinlichkeit nicht wiedergegeben hatte. Selbst eine sachverständig festgestellte hohe Identitätswahrscheinlichkeit trägt eine Verurteilung nicht allein, wenn das Foto eine mindere Qualität aufweist. Erforderlich ist zumindest die zusätzliche Feststellung, dass der Betroffene entweder Halter ist oder in einer solchen Beziehung zu dem Halter steht, dass ein Zugriff auf den Pkw zu der fraglichen Zeit nicht auszuschließen ist.

Aus den Gründen:

(…) Das Amtsgericht hat gemäß § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf das Beweisfoto verwiesen und es damit zum Bestandteil der Urteilsgründe gemacht. Das Foto ist – das hat auch das Amtsgericht unter Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen festgestellt – relativ kontrastarm. Eine Sonnenbrille verdeckt die Augenpartie. Gemessen an dieser geminderten Qualität des Beweisfotos ist das angefochtene Urteil in der Darstellung der Beweiswürdigung lückenhaft. Insbesondere konnte sich das Amtsgericht nicht auf den Ausschluss des Vaters des Betroffenen als Fahrer beschränken. Den Feststellungen zufolge hatte sich der Betroffene gar nicht zur Sache eingelassen. Die Fahrereigenschaft war dem Betroffenen damit vollen Umfangs nachzuweisen. Die Urteilsgründe ermöglichen dem Senat nicht die Kontrolle, ob die Feststellung, dass gerade der Betroffene Fahrer des PKW war, rechtsfehlerfrei getroffen worden ist. Ihnen ist nicht hinreichend zu entnehmen, aus welchen Gründen das Amtsgericht dem mündlich erstatteten Gutachten des Sachverständigen Dr. G… gefolgt und deshalb zur Überzeugung von der Fahreigenschaft der Betroffenen gelangt ist.

Der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und diesem Beweisbedeutung beimisst, muss auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen anschließt, die Ausführungen des Sachverständigen in einer, wenn auch nur gedrängten, zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wiedergeben, um dem Rechtsbeschwerdegericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (BGH, NStZ 2000, 106, 107 m.w.N.. OLG Celle, NZV 2002, 472. OLG Jena, DAR 2006, 523 m.w.N.). Bei einem anthropologischen Identitätsgutachten handelt es sich nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode, bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränken kann. Von einem gesicherten Stand der Wissenschaft in diesem Bereich kann nicht die Rede sein (so ausdrücklich BGH, NStZ 2005, 458, 460). Um dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung der gedanklichen Schlüssigkeit des Gutachtens und seines Beweiswertes zu ermöglichen, bedarf es daher über die Aufzählung der mit dem Foto übereinstimmenden morphologischen Merkmalsprägungen des Betroffenen hinausgehender Angaben.

Allerdings war das Amtsgericht nicht gehalten, konkrete Angaben zu der Merkmalshäufigkeit zu machen. Dies wird zwar in der Rechtsprechung verschiedentlich verlangt (OLG Braunschweig, NStZRR 2007, 180. OLG Celle, NZV 2002, 472. OLG Jena, DAR 2006, 523 jeweils m.w.N.). Demgegenüber schließt sich der Senat der durch den 4. Senat des OLG Hamm vertretenen Auffassung (OLG Hamm, DAR 2008, 395 ff.) an, wonach die Angabe der Merkmalshäufigkeit schon deshalb nicht verlangt werden kann, weil es sowohl an fest definierten Merkmalen als auch an statistischem Material zur Merkmalshäufigkeit fehlt. Von dem Tatrichter hier die Darlegung der Beweisbedeutung anhand der Häufigkeit des Vorkommens der einzelnen Merkmale in der „richtig abgegrenzten“ Bevölkerung zu verlangen (so OLG Jena aaO.), stellt eine unlösbare Aufgabe dar. Die „Arbeitsgruppe Identifikation nach Bildern“, in der sich namhafte Sachverständige zusammengeschlossen haben, weist in den von ihr erstellten und laufend aktualisierten Standards ausdrücklich darauf hin, dass eine allgemeine Wahrscheinlichkeit wegen der meist schlechten Quantifizierbarkeit und oft unbekannten Bevölkerungshäufigkeit nicht durchgehend fassbar sei (AGIB, Standards für die Identifikation lebender Personen nach Bildern, Stand Mai 2008, abzurufen unter http://bildidentifikation.de/standards, im folgenden: AGIB, Standards, Ziff. 6). Zudem spiele bei einer hohen Zahl gut erkennbarer Merkmale die Häufigkeit kaum eine Rolle (AGIB, Standards, Ziff. 7). Viele morphologische Merkmale ließen sich nur schwer quantifizieren und seien vom Gutachter einzuschätzen (AGIB, Standards, Ziff. 11). Auf die gleitenden Übergänge der Klassifizierungen, die graduellen Abweichungen zwischen einzelnen Sachverständigen und die fehlende eindeutige Bestimmbarkeit der einzelnen Merkmale weist auch der Bundesgerichtshof ausdrücklich hin (BGH, NStZ 2005, 458, 459 m.w.N.. die in diesem Fall zugezogenen Sachverständigen waren schon nicht einig darüber, ob das Bildmaterial überhaupt für eine Identifizierung geeignet war).

Demgegenüber sieht es der Senat als unerlässlich an, dass neben der Wiedergabe sowohl der festgestellten Merkmalsübereinstimmungen als auch der vorhandenen Abweichungen die von dem Sachverständigen gezogene begründete Schlussfolgerung im Hinblick auf die Einschätzung der Identitätswahrscheinlichkeit wiedergegeben wird. Daran fehlt es hier. Das Amtsgericht stellt zwar fest, dass der Sachverständige „keine erkennbaren Widersprüche“ habe ausmachen können. Eine Einschätzung der Identitätswahrscheinlichkeit lässt sich diesen Angaben aber nicht entnehmen. Allein die Zahl der gefundenen Merkmale sagt dazu nichts aus (vgl. AGIB, Standards Ziff. 11).

Zudem trägt selbst eine seitens eines Sachverständigen festgestellte hohe Identitätswahrscheinlichkeit eine Verurteilung nicht allein, wenn das Foto – wie hier – eine mindere Qualität aufweist (vgl. OLG Braunschweig, NStZRR 2007, 180 ff.). Dazu ist die Beweiskraft von anthropologischen Gutachten mit zu großen Unsicherheiten behaftet. Ein Rückschluss auf den Fahrer erfordert aus Sicht des Senats zumindest die zusätzliche Feststellung – der Rückgriff auf den Akteninhalt ist dem Revisionsgericht verwehrt – dass der Betroffene entweder Halter des PKW ist oder in einer solchen Beziehung zu dem Halter des PKW steht, dass ein Zugriff auf den PKW zu der fraglichen Zeit nicht auszuschließen ist. Hier fehlt es an Feststellungen dazu, wer Halter des PKW ist und ob der Beklagte Zugriff auf diesen PKW hatte. Sollte sich beweisen lassen, dass nur der Beklagte zur fraglichen Zeit über den PKW verfügte, kann sich selbst bei einem Foto von minderer Qualität ein anthropologisches Sachverständigengutachten erübrigen. Insoweit weist der Bundesgerichtshof ausdrücklich darauf hin, dass über die Identifikation des Fahrers anhand des Fotos hinaus die sonstige Beweissituation nicht außer Betracht bleiben dürfe. Bestreite der Betroffene mit näheren Ausführungen, der Fahrer gewesen zu sein, und benenne er etwa andere Personen, die als Fahrer in Betracht kommen, so könne eine eingehendere Darstellung der Beweiswürdigung geboten sein. Umgekehrt könne eine Gesamtwürdigung aller Umstände – der sich aus dem Foto ergebenden Anhaltspunkte sowie weiterer Indizien, etwa der Haltereigenschaft, der Fahrtstrecke oder zeit – auch dann zur Überführung des Beschuldigten ausreichen, wenn der Vergleich des Fotos mit dem Betroffenen für sich allein diesen Schluss nicht rechtfertigen könne (BGH, BGHSt 41, 376, 385. vgl. auch OLG Hamm, DAR 2008, 395 (397)). (…)

OLG Oldenburg, Beschluss vom 30.09.2008, Ss 324/08 (Volltext)
144 Js 62458/07 StA Osnabrück

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