Kammergericht – Wenn ohne Aktenkenntnis eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist, hat eine Pflichtverteidigerbeiordnung zu erfolgen


Die Strafprozessordnung nennt in § 140 die Fälle, in denen eine „notwendige Verteidigung“ zwingend vorgeschrieben ist und einem ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden muss. Dies ist nach § 140 Abs. 2 StPO dann der Fall, wenn es wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint, oder wenn ersichtlich ist, dass sich ein Beschuldigter nicht selbst verteidigen kann.

Dem Beschuldigten bzw. Angeklagten ist Gelegenheit zu geben, einen Anwalt seines Vertrauens vorzuschlagen. Wenn das Gericht die notwendige Beiordnung eines Pflichtverteidigers unterlässt und den Angeklagten unverteidigt verurteilt, verletzt es das Gesetz. Es liegt ein absoluter Revisionsgrund vor (§338 Nr. 5 StPO), das Urteil ist auf das eingelegte Rechtsmittel der Revision hin zwingend aufzuheben.

Eine solche Revision hat der Berliner Rechtsanwalt Carsten Hoenig erfolgreich vor dem Kammergericht geführt. Er hatte sich als Verteidiger seiner Mandantin gemeldet und die Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt. Die türkische Angeklagte, der deutschen Sprache nicht mächtig, war wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen angeklagt und bestritt die Tat. Belastet wurde sie wurde durch die Aussagen von drei arabischen Jugendlichen im Alter von 14 und 18 Jahren. Der Beiordnungsantrag wurde vom Amtsgericht Tiergarten abgelehnt, die dagegen erhobene Beschwerde vom Landgericht Berlin als unbegründet verworfen. Die Angeklagte ging unverteidigt in die Hauptverhandlung und wurde von einem Jugendrichter beim Amtsgericht Tiergarten erwartungsgemäß zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten unter Aussetzung zur Bewährung verurteilt. Die gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten erhobene Sprungrevision zum Kammergericht hatte Erfolg.

Das Kammergericht sah einen Fall der notwendigen Verteidigung als gegeben, hob das Urteil auf und verwies es an eine andere Abteilung des Amtsgericht Tiergarten zu neuer Entscheidung zurück:

„Die türkische Angeklagte stand völlig allein einer ihr feindlich gesonnenen Gruppe von Jugendlichen gegenüber; unbeteiligte Zeugen gab es nicht. Zur Verteidigung war es unabdingbar erforderlich, die in den Akten niedergelegten Bekundungen der Zeugen in ihren Einzelheiten zu kennen, um gegebenenfalls Widersprüche herauszuarbeiten. Das ist nur nach Akteneinsicht möglich, die nur dem Verteidiger zusteht (§ 147 Abs. 1 StPO).“

KG, Beschluß vom 14. 01.2007, AZ: (2) 1 Ss 438/07 (33/07) – Volltext der lesenswerten Entscheidung als PDF auf www.kanzlei-hoenig.info

Quelle: www.kanzlei-hoenig.info

, ,